Vor 75 Jahren überfiel die faschistische Wehrmacht die Sowjetunion. Nicht der Angriff überraschte Stalin und die Generäle der Roten Armee, sondern das zunächst rasche Vordringen der deutschen Verbände. Verbrecherischer Überfall mit großer Wucht. Die Wehrmacht erlangte in den ersten Tagen des »Unternehmens Barbarossa« große Geländegewinne (Deutsche Bomber und motorisierte Einheiten, Ende Juni 1941).
Vor 75 Jahren setzte Adolf Hitler den größten und verheerendsten Kriegsfeldzug in der Geschichte in Gang, als er drei Millionen deutsche Soldaten und Truppen verbündeter Staaten auf einer 1.600 Kilometer breiten Front in die Sowjetunion einmarschieren ließ.
Das »Unternehmen Barbarossa«, wie der Codename für den Überfall auf Russland lautete, war kein gewöhnlicher Feldzug: Dies war ein ideologischer und rassistischer Krieg der Zerstörung mit dem Ziel, die Juden auszulöschen, die sowjetischen Völker zu versklaven und den Kommunismus zu vernichten. Ein Krieg, in dem 25 Millionen sowjetische Zivilisten starben, darunter eine Million Juden, die von der SS und anderen Verbänden zwischen 1941 und 1942 exekutiert wurden – als Vorlage für den Holocaust an den europäischen Juden durch die Nazis. Bei ihrem Einmarsch verwüstete die deutsche Wehrmacht den europäischen Teil der Sowjetunion. Zerstört wurden 70.000 Kleinstädte und Dörfer, 98.000 genossenschaftliche Kolchosen, Zehntausende Fabriken und Abertausende Kilometer Straßen und Eisenbahngleise. Durch den Krieg verlor die UdSSR 15 Prozent ihrer Bevölkerung und 30 Prozent ihres Volksvermögens.
Der Angriff auf die Sowjetunion war der Höhepunkt in Hitlers Versuch, Deutschland als dominante Weltmacht zu etablieren. Am Anfang stand der Einmarsch in Polen im September 1939, es folgte die Eroberung Frankreichs im Juni 1940. Bis 1941 hatte die deutsche Kriegsmaschinerie die meisten Länder Europas unterworfen, das jeweilige Land entweder überfallen oder gezwungen, sich Hitlers Achsenmächten anzuschließen.
Im Westen trotzte dieser Entwicklung nur Großbritannien, das durch den Ärmelkanal und die Stärke der Royal Navy und der Air Force geschützt war und deshalb unbesiegt blieb. Im Osten war allein die Sowjetunion übrig geblieben, die durch ihren Widerstand verhindern konnte, dass Deutschland vollständig die Vorherrschaft in Europa errang.
Schlagkraft falsch eingeschätzt
Im August 1939 hatte Stalin mit Hitler einen Nichtangriffspakt geschlossen, dem ein »geheimes Zusatzprotokoll« angefügt war, mit dem Polen und das Baltikum in deutsche und sowjetische Interessensphären aufgeteilt wurden. Dieses Abkommen geriet im Sommer 1940 nach der Niederlage Frankreichs und der sowjetischen Besetzung der baltischen Staaten ins Wanken. Im November 1940 schickte Stalin seinen Außenminister Wjatscheslaw Molotow nach Berlin, um den »Hitler-Stalin-Pakt« neu zu verhandeln. Stalin lehnte jedoch Hitlers Angebot einer Juniorpartnerschaft in einer weltweiten Koalition gegen Großbritannien und die Vereinigten Staaten ab. Kurz nach Molotows Berlin-Besuch gab Hitler dem Oberkommando der Wehrmacht die Weisung, das »Unternehmen Barbarossa« einzuleiten.
Das Ziel von »Barbarossa« war die Eroberung Russlands durch einen »Blitzkrieg«. Hitler und sein Generalstab dachten, es wären nur ein paar Monate erforderlich, um die Rote Armee zu zerschlagen, Leningrad und Moskau einzunehmen und auf der Linie von Archangelsk bis Astrachan die westliche Hälfte der Sowjetunion zu besetzen. »Die Welt wird den Atem anhalten«, sagte Hitler, als er den Generälen versicherte, dass sie nur die Tür einzutreten hätten, und die ganze »verrottete Struktur« des sowjetischen Kommunismus würde zusammenbrechen. Diese ideologische Voreingenommenheit gegen das Sowjetsystem wurde bestärkt durch das schlechte Bild, das die Rote Armee im Winterkrieg mit Finnland in den Jahren 1939 und 1940 abgegeben hatte.
Auslöser für diesen Krieg war Finnlands Weigerung, der Abtretung eines Gebiets zuzustimmen, das die Sowjets als entscheidend für die Gewährleistung der Sicherheit Leningrads ansahen. Moskau erwartete einen leichten Sieg, aber der erste sowjetische Angriff auf Finnland im Dezember 1939 scheiterte komplett, und die UdSSR hatte Zehntausende Gefallene zu beklagen. Nachdem sich die Rote Armee neu formiert hatte, zwang sie Finnland in einer zweiten Offensive dazu, im März 1940 einen Friedensvertrag nach Moskaus Konditionen zu akzeptieren.
Das deutsche Oberkommando zog daraus den falschen Schluss, dass die Rote Armee ein leichter Gegner für die Wehrmacht würde. Was die Deutschen nicht wahrnahmen, war die Tatsache, dass die Rote Armee nach dem Krieg gegen Finnland eine weitreichende Analyse ihres Kriegseinsatzes vorgenommen hatte. Das Ergebnis war eine Reihe von Militärreformen, einschließlich der Wiedereinstellung Tausender »verdächtiger« Offiziere, die in den 1930er Jahren im Zuge der »Säuberungen« Stalins kaltgestellt worden waren. Als Hitler den Befehl zum Angriff auf die Sowjetunion gab, sah er sich deshalb mit einer erfahreneren und stärkeren Militärmacht konfrontiert, als er es erwartet hatte.
Mythos Präventivkrieg
An dem Tag, an dem der Einmarsch begann – am 22. Juni 1941 – behauptete Hitler, die Invasion sei eine Antwort auf das Handeln und die Provokationen Russlands. Die Nazipropaganda stellte das »Unternehmen Barbarossa« als einen Präventivschlag gegen einen bevorstehenden Angriff der Sowjetunion dar. Durch den Überfall schützte Deutschland angeblich das »christliche Europa« vor den »barbarischen asiatischen Horden« aus dem Osten.
Der Mythos, das Deutsche Reich führe einen Verteidigungskrieg gegen die UdSSR, hält sich in ultrarechten politischen Kreisen bis heute, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass Stalin erwogen hatte, Deutschland im Sommer 1941 anzugreifen. Im Gegenteil versuchte Stalin fieberhaft, eine militärische Auseinandersetzung zu verhindern, um möglichst viel Zeit für den Abschluss der sowjetischen Verteidigungsvorbereitungen zu gewinnen. Während einige Generäle der Roten Armee geneigt waren, dem erwarteten deutschen Angriff zuvorzukommen, hielt Stalin das für völlig abenteuerlich, weil er den Krieg fürchtete, nicht zuletzt wegen seines Verdachts, die Briten könnten sich insgeheim Richtung Deutschland umorientieren und sich an einer antibolschewistischen Kampagne gegen die UdSSR beteiligen. Dieser Verdacht wurde durch den mysteriösen Flug von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß im Mai 1941 nach London bestärkt, der für Stalin Indiz war, dass möglicherweise Verhandlungen über eine britisch-deutsche Allianz stattfanden.
Durch ihre Führungs- und Einsatzgrundsätze sowie ihre Traditionen war die Rote Armee durchaus offensiv orientiert, und sie plante für den Fall, dass Hitler die UdSSR angreifen würde, sich gegenüber Deutschland auch entsprechend zu verhalten. Im Zentrum der sowjetischen Kriegsvorbereitungen standen Pläne für eine Gegenoffensive, mit der die Rote Armee einen Angriff der deutschen Wehrmacht abfangen würde, um dann selbst in das feindliche Territorium einzumarschieren. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass diese Pläne im Sommer 1941 zu einer aggressiveren Strategie weiterentwickelt worden waren. In ihren Kriegsvorbereitungen vor dem 22. Juni 1941 nahm die Sowjetunion also eine defensive Haltung ein.
Zunächst schien Hitlers Rechnung aufzugehen, als die deutschen Divisionen tief auf sowjetisches Gebiet vorstießen, alles zerstörten, was sich ihnen entgegenstellte, und Millionen von gegnerischen Soldaten einkesselten und gefangennahmen. Schon am 3. Juli notierte Generaloberst Franz Halder, Chef des Generalstabes des Heeres, in sein Kriegstagebuch: »Es ist also wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass der Feldzug gegen Russland innerhalb [von] 14 Tagen gewonnen wurde.« Bis September hatte die Wehrmacht Kiew erobert, Leningrad eingekesselt, und sie war einsatzbereit, auf Moskau vorzustoßen.
Halders Euphorie war aber voreilig, und Anfang August beschlichen ihn Zweifel: »Wir haben bei Kriegsbeginn mit etwa 200 feindlichen Divisionen gerechnet. Jetzt zählen wir bereits 360 Divisionen. […] Und wenn ein Dutzend zerschlagen wird, dann stellt der Russe ein neues Dutzend hin.«
Offensivverteidigung
Aber es waren nicht nur die unerschöpflichen menschlichen Reserven, die einen schnellen und leichten Sieg der Deutschen vereitelten. Die sowjetischen Verteidigungslinien brachen nicht völlig zusammen. Nachdem die Rote Armee sich vom ersten Schock des deutschen Angriffs erholt hatte, schlug sie zurück und leistete hartnäckigen Widerstand.
Quelle und Anmerkung
Geoffrey Roberts ist Professor für Geschichte am University College Cork in Irland. Er ist Autor von »Stalins Kriege. Vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg« (2008) und »Stalin’s General: The Life of Georgy Zhukov« (2012) jW vom 21.06.2016