Der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war zentraler Bestandteil abenteuerlicher und verbrecherischer Weltherrschaftspläne des deutschen Imperialismus. Raub- und Vernichtungskrieg: Reichspropagandaminister Joseph Goebbels verkündet am 22. Juni 1941 im Rundfunk den Angriff der Wehrmacht auf die UdSSR.
In Deutschland gab es eine Kleingruppe, die das Ausmaß der Verlogenheit ermessen konnte, mit der Hitler den Deutschen den Überfall auf die Sowjetunion begründet hatte. Die war gebildet durch die personelle Spitze der Wehrmacht, insbesondere die Generalität des Heeres. Am 21. Juli 1940, der Krieg in Westeuropa war gerade beendet, fand beim »Führer« eine Besprechung über die weiteren Schritte der deutschen Kriegführung statt. Darüber existiert eine sogenannte Tagebucheintragung des Chefs des Generalstabes des Heeres, Franz Halder. Das Bild Hitlers über Russlands künftige Haltung wurde darin so zusammengefasst: Die Sowjetunion habe Interesse an der Fortdauer des Krieges. So bliebe eine internationale Konstellation erhalten, die ihrer Außenpolitik dienlich war und ist. Stalin habe Interesse, »dass Deutschland nicht zu stark wird. Aber es liegen keine Anzeichen für russische Aktivitäten uns gegenüber vor«, so Generalstabschef Halder. Dennoch solle »das russische Problem« in Angriff genommen werden. Das hatten die Generalstäbler bereits getan. Ihre Vorstellungen lauteten: Der Aufmarsch werde vier bis sechs Wochen in Anspruch nehmen, und man brauche 80 bis 100 Divisionen, um an Zahl den sowjetischen überlegen zu sein. Das Hauptziel bilde die Zerschlagung des »russischen Heeres«. Mindestens aber müssten so weite Gebiete des Gegners besetzt werden, dass das eigene Land vor Luftangriffen geschützt sei und das gegnerische durch die eigene Luftwaffe weithin zerschlagen werden könne.
Natürlich wussten die Strategen, dass dieser Krieg Großbritannien entlasten würde und das Vereinigte Königreich wie die Sowjetunion auf wirtschaftliche Hilfe der USA würden rechnen können. Auch das politische Ziel des Krieges, dessen Beginn Hitler ursprünglich noch im Herbst 1940 für denkbar hielt, war lange vorher fixiert: die Bildung eines ukrainischen Reiches, eines Baltischen Staatenbundes und eines selbständigen Weißrusslands, von staatlichen Gebilden also, unter denen man sich Satelliten des Reiches vorzustellen hatte.
An jenem 21. Juli 1940 wurden keine endgültigen Entscheidungen gefällt, wohl aber wurde grünes Licht für weitere Planungen des Feldzuges gegen die Sowjetunion gegeben, ohne dass diese irgendeinen Grund dafür geliefert hätte. Und der »Führer« hatte auch in den folgenden Monaten keine Veranlassung, seine Ansicht über das Verhalten Moskaus zu ändern, wie aus einer Notiz über das Gespräch hervorgeht, das er am 4. Oktober 1940 mit Mussolini auf dem Brenner führte. Hitler erklärte dem Duce, es sei »nicht wahrscheinlich, dass sich Russland in Gegensatz zu uns setzt«. »In Russland regieren Männer mit Vernunft«, sagte Hitler.
Selbst in der als Schlüsseldokument auf dem Weg in den Krieg gegen die UdSSR anzusehenden Weisung Nr. 21 (»Fall Barbarossa«) vom 18. Dezember 1940 war von keiner abzuwendenden Bedrohung des Reiches die Rede, sondern irreführend vom denkbaren Fall einer Veränderung der russischen Haltung gegenüber dem Deutschen Reich. Sie begann: »Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England, Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen.« Und endete: »Das Endziel der Operation ist die Abschirmung gegen das asiatische Russland an der allgemeinen Linie Wolga-Archangelsk. Alle Vorbereitungen sind bis zum 15. Mai 1941 abzuschließen.«
Ausdrücklich wurde die strikteste Tarnung aller dieser Vorbereitungen gefordert. Zu der Tarnungs- und Verschleierungsstrategie gehörte auch die Einladung des sowjetischen Außenministers nach Berlin. Dessen Besuch fand im November 1940 statt. In den beiden mehrstündigen Gesprächen mit Hitler versuchte Molotow vor allem, den totalen Verzicht Deutschlands auf jeden Einfluss in Finnland durchzusetzen, das er zur sowjetischen Interessensphäre rechnete, dazu die deutsche Zustimmung zur erfolgten Annexion des nördlichen Teils der Bukowina am 28. Juni 1940. Hitler hatte zwar – angesichts seiner Pläne – weder die Absicht, es sich mit Helsinki noch mit Bukarest zu verderben. Doch handelte es sich dabei um nebensächliche Fragen. Man verabschiedete sich von einander nicht in offenem Streit oder gar in erklärter Feindseligkeit. Die Gesprächspartner versicherten einander mehrfach ihr übereinstimmendes Grundinteresse am Frieden und an der Entwicklung ihrer jeweiligen gegensätzlichen Gesellschaften.
»Ostraum wirtschaftlich ausnutzen«
Anfang 1941 erreichten die Angriffsvorbereitungen vor der deutsch-russischen Grenze ein Ausmaß, dass Mitte Februar spezielle Richtlinien des Oberkommandos der Wehrmacht für die Feindtäuschung, namentlich die Irreführung des künftigen sowjetischen Gegners, notwendig wurden. Dann erforderte der Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland die Verschiebung des Angriffs »bis zu vier Wochen«. Noch bevor der Balkanfeldzug begann, hielt Hitler am 30. März der Generalität eine zweieinhalbstündige Ansprache, in deren Mittelpunkt nicht der bevorstehende Feldzug, sondern der Krieg gegen die UdSSR stand. Auch dabei fiel kein Wort über die Abwehr eines bevorstehenden sowjetischen Angriffs, gesagt wurde lediglich, es bestehe »die Notwendigkeit, die russische Lage zu bereinigen«. Denn: »Nur so werden wir in der Lage sein, in zwei Jahren materiell und personell unsere Aufgaben in der Luft und auf den Weltmeeren zu meistern, wenn wir die Landfragen endgültig und gründlich lösen.« Das konnten die Anwesenden als Vorsatz verstehen, mit den Eroberungen in Osteuropa einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zu weltweiter Herrschaft zu machen. Der deutsche Plan – nicht etwa einer von Stalin – lieferte die Begründung für den Überfall. Als Kriegsziele wurden genannt: »Nordrussland gehört zu Finnland, Protektorate Ostseeländer, Ukraine, Weißrussland«. Die Ausfälle Hitlers gegen »Bolschewismus« und »Kommunismus« und deren Qualifikation als »Zukunftsgefahren« bildeten in dieser Ansprache eher den ideologischen Anhang.
Wer an diesem Treffen teilnahm, hatte gehört, dass er an einem Eroberungskrieg teilnehmen sollte. Keiner meldete sich davon mit einem Krankenschein ab. Diese Generalität ging, geprägt durch die leicht errungenen Feldzugssiege, die hinter ihr lagen, beispiellos überheblich in den zweiten Krieg im Osten. Sie hatte ihre Siege nicht etwa der Schwäche ihrer Gegner, sondern ihrer eigenen Genialität und dem einzigartigen deutschen Soldaten zugeschrieben. Und sie hatte vergessen, was sie auf Militärakademien über Napoleons Feldzug und dessen Scheitern gelernt hatte.
Elf Tage vor dem Beginn des Überfalls schrieb der Generalstabschef des Heeres schon einen Weisungsentwurf für die Zeit »nach der Zerschlagung der sowjetischen Wehrmacht«. »Nach der siegreichen Beendigung des Ostfeldzuges«, hieß es darin, müsse der Ostraum unter voller Mitwirkung der Wehrmacht »gesichtet, organisiert und wirtschaftlich ausgenutzt werden«. Die deutschen Soldaten sollten sich also auf das Verbleiben im eroberten Land einrichten, nicht anders als Briten und Franzosen, Niederländer, Belgier und Portugiesen in ihren einst »erworbenen« afrikanischen und asiatischen Kolonien.
Bekenntnis zum Landraub
Dass Hitler Millionen junger Deutscher in den Krieg gegen die UdSSR befahl, dürfte am wenigsten Leser seines 1925 erschienenen Buches »Mein Kampf« verwundert haben, wenn sie auch der Zeitpunkt überrascht haben mag, an dem das geschah. Darin hatte sich der Autor Hitler unverblümt zum Landraub auf Kosten anderer Völker bekannt, wenn er dafür auch Wortwendungen wie »gesunde Bodenpolitik« oder »Erwerbung von neuem Lande in Europa« benutzte. Eine darauf gerichtete Politik präferierte er vor aller überseeischen Kolonialpolitik. Land auf dem »Heimatkontinent« sei jedoch nur auf dem Wege eines »Waffengangs« zu gewinnen. Eindeutig bestimmte Hitler auch die Expansionsrichtung: »Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte das im großen und ganzen nur auf Kosten Russlands geschehen.« Dafür sei 1904 die Chance verpasst worden, die in einer Nachahmung der Rolle Japans bestanden habe, das im Februar jenes Jahres in Asien den Krieg gegen das zaristische Russland begonnen und gewonnen hatte. Wäre da vom deutschen Kaiserreich ebenso gehandelt worden, »welche Stellung würde Deutschland heute in der Welt einnehmen«, trauerte Hitler der ausgelassenen Chance nach. Man sei dem »nötigen Kampf« ausgewichen, der angeblich um die Zukunft der deutschen Nation hätte geführt werden müssen. Am Ende seiner Schrift kam Hitler auf das Thema passagenweise nahezu wortgleich zurück: »Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken.« Da das Riesenreich im Osten in die Hände der Bolschewisten und Juden gefallen sei, wäre es ohnehin »reif zum Zusammenbruch«. Das Schicksal selbst, schrieb Hitler, scheint den Deutschen so »einen Fingerzeig geben zu wollen«, ihnen gleichsam die Rolle des Vollenders und Abrissarbeiters zuzuweisen. Das Schwert habe der »Arbeit des deutschen Pfluges« den Boden zu geben.
Hitler suchte in »Mein Kampf« den Eindruck zu erwecken, als sei er Vorkämpfer einer generellen Neuausrichtung der deutschen Außen- und Expansionspolitik. In Wahrheit stand er fest in der imperialistischen Tradition des Kaiserreiches, das eine vorherrschende Rolle in Europa als Voraussetzung dafür ansah, außerhalb des »alten Kontinents« Eroberungen durchzusetzen und zu behaupten. In dem sogenannten Septemberprogramm deutscher Kriegsziele von 1914, verfasst von Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg, hieß es: Russland solle »von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden«. Das meinte das ukrainische Volk und die baltischen und kaukasischen Völker, mithin die Amputation des Zarenreiches. Und weiter im Detail: »Die Frage der kolonialen Erwerbungen, unter denen in erster Linie die Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs anzustreben ist, desgleichen die Russland gegenüber zu erreichenden Ziele werden später geprüft.«
Da wurde indessen bis 1918 nichts geprüft und verändert. Im Vertrag von Brest-Litowsk war eine Grenze Sowjetrusslands festgelegt, die so verlief, dass vor ihr westwärts davon die baltischen Ländereien und die Ukraine sowie Weißrussland lagen. In ihnen gedachten das Reich und Österreich-Ungarn, die Siegermächte, ihre Vorherrschaft einzurichten und hielten sie zunächst weithin militärisch besetzt. Russland verlor durch diese Abtrennungen 34 Prozent seiner Bevölkerung, 54 Prozent seiner Industrie und 89 Prozent seiner Kohlevorkommen. Nur die Kurzlebigkeit dieses Diktats hat es später als ein Produkt unverschämt räuberischer Gesinnung in Vergessenheit gebracht. Seine Urheber verwirkten wenig später auch jedes politische und moralische Recht, den Versailler Vertrag als Unrechtsakt zu bekämpfen. Ziel war der Gewinn und die dauernde Errichtung eines Kolonialreiches im Osten (deutsche Soldaten am 1. Juli 1941 kurz nach Beginn der Aggression auf dem Vormarsch).
Hitler scherte das nicht. Er berichtete in »Mein Kampf« stolz von seinen frühen Reden gegen den Deutschland diktierten Versailler Vertrag und phantasierte, wie stets auf Unbildung seiner Zuhörer vertrauend, dass der Vertrag von Brest-Litowsk »in Wirklichkeit von einer geradezu grenzenlosen Humanität« geprägt gewesen sei. Kurzum: Es konnte keine Rede davon sein, dass Hitler den deutschen Imperialisten neue Ziele gesetzt hätte. Er modifizierte die alten und ergänzte sie.
Krieg für den »Endsieg«
Für den »Führer« und die Militärs an der Regimespitze verband sich der Krieg gegen die UdSSR von Anbeginn mit einem weiteren, über den Gewinn und die dauernde Inbesitznahme eines Kolonialimperiums im direkten Anschluss an das Reich hinausreichenden Ziel. Entlang der Linie Archangelsk bis zur Wolgamündung sollten ein deutscher Wall entstehen und 60 Divisionen genügen, das eroberte Land zu beherrschen. Der Sieg im Osten galt als unabdingbare Voraussetzung für den dann folgenden im Westen, den »Endsieg«.
Invasion der britischen Inseln oder Krieg gegen die Sowjetunion: Bei dieser Frage hatte sich der »Führer« für den Krieg im Osten entschieden, und die Generäle waren dem gefolgt. Das verband sich mit einer doppelten Spekulation: das Riesenreich im Osten werde rasch besiegt und damit Großbritannien seiner letzten Hoffnung beraubt. London werde sich in dieser Situation geschlagen geben. Täte es das nicht, ließe sich der Krieg – gestützt auf die im Osten gewonnenen unerschöpflichen materiellen Ressourcen – weiterführen. Wenn notwendig, werde man über die Türkei und den Kaukasus in den vorderen und mittleren Orient vorstoßen, sich auf den Weg nach Indien machen und nebenbei den britischen Suezkanal und das britische Gibraltar in Besitz nehmen.
In dieser Vorstellung vom Weg zur Weltmacht Nummer 1 standen die USA außerhalb der Rechnung oder waren darin zumindest marginalisiert. Deren Parteinahme für Großbritannien und die Unterstützung von dessen Standhaftigkeit waren bereits vor dem Überfall auf die UdSSR unbezweifelbar, auch wenn sie noch nicht in eine gemeinsame militärische Front geführt hatten. Die herrschenden Kreise der USA waren entschlossen, nicht zuzulassen, dass sie mit einer europäischen Supermacht konfrontiert und – nächst Großbritannien – von ihr herausgefordert würden. Der US-Präsident Roosevelt hatte in einer Rundfunkrede am 27. Mai 1941, nach der Eroberung Griechenlands und Jugoslawiens unmissverständlich gesagt, dass sein Land nicht zulassen werde, dass ein Politiker wie Hitler mit seinen antihumanen Grundsätzen Herr der Welt werden würde. Seine Ansprache war ein leidenschaftlicher Appell an seine Landsleute, die auch ihnen drohende Gefahr zu erkennen und keine Anstrengungen zu unterlassen, sie abzuwenden.
Nüchternes Abwägen hätte an der Spitze des deutschen Regimes folglich zu dem Ergebnis führen müssen, dass selbst ein Triumph der deutschen Wehrmacht im Osten an dieser Grundsituation nichts ändern würde. Indessen hofften die faschistischen Strategen, »nach Barbarossa« und der Umstellung ihrer Rüstungen mit einer Übermacht an Luftstreitkräften und Unterseebooten über den »letzten Gegner« herfallen zu können. Damit aber waren sie schon in der zweiten Jahreshälfte 1940 nicht erfolgreich gewesen. Und das Vereinigte Königreich würde nach einer Atempause nicht schwächer sein.
»Neues Ziel vor Augen«
Von einer Gruppe ungezählter Personen im Umfeld des obersten zivilen und militärischen Führungszirkels lässt sich nicht sagen, dass die Ausweitung des Krieges mit der Eröffnung einer neuen kontinentalen Landfront sie überrascht habe. In diesen Kreisen hatte sich sein Beginn bis auf den Tag genau herumgesprochen. Ulrich von Hassell beispielsweise notierte am 16. Juni 1941: »Entscheidung Russland gegenüber nähert sich. Nach Ansicht aller Knowing men ist der Beginn des Angriffs etwa am 22. höchstwahrscheinlich.«
Ernst von Weizsäcker, der allerdings zu den auf dem Dienstwege Eingeweihten gehörte, schrieb nach der Rückkehr von einer Ungarnreise am 18. Juni: »In Budapest wurde ich natürlich vor allem nach unseren Absichten gegen Russland gefragt. Ich musste noch immer den bestehenden Plan verschleiern.« Und weiter: Der »russische Krieg« sei beschlossen und solle »in drei Tagen beginnen«.
Doch auch unterrichtete Personen im Umfeld der Führungsspitze, die gegenüber der Außenpolitik und dem Kriegskurs gegen Russland Vorbehalte hatten – zu ihnen gehörte etwa Ernst von Weizsäcker – fanden sich mit dem Vorhaben ab, ja, gewannen ihm gar positive Seiten ab. Der Opportunismus des Diplomaten zeigt sich in dem Satz: »Zu jeder Lage muss man eben seine Haltung finden.« Das beschrieb von Weizsäcker am 21. Juni 1941 so: »Wenn dieses (Schreiben) an Dich gelangt, ist der Marsch nach dem Osten angetreten und die Nemesis an der Arbeit, um 25jährige Schuld des kommunistischen Wütens zu sühnen. Mir scheint, dass wir nicht die Absicht haben, diesen Racheakt zu hindern, wenn etwa in Stadt und Dorf die Bevölkerung sich gegen ihre bisherige bolschewistische Herrschaft mit Gewalt erhebt. […] Ich stelle aber meine eigene Meinung ab heute zurück und besinne mich, ob nicht etwa im September eine Geneigtheit zum Frieden im Westen dämmern könnte, nachdem das deutsche Gesicht dem Osten zugewandt ist. […] Man muss doch ein neues Ziel vor Augen haben.«
Das ähnelte im Kern jedenfalls demjenigen Hitlers, wenn der sein Versklavungsprojekt auch nicht durch eine nur propagandistische Vortäuschung einer Befreiermission verderben lassen wollte. Und mit den militärischen Erfolgen keimten auch bei von Weizsäcker schöne Hoffnungen auf: »Man mag dann Stalin in Asien am Leben lassen, vielleicht auch ihn gegen Mesopotamien einsetzen, d. h. also ihn umdrehen gegen England. […] Kommt der russische Kollaps […], so wird in England die Depression einsetzen. Churchill muss dann Hoare¹ weichen, und dann machen wir Frieden. Vielleicht schon bald.«
Als die Hauptmacht des deutschen Heeres und der Luftwaffe am 22. Juni 1941 losschlug, hatte sie zuvor in einem Krieg von 20 Monaten Dauer acht europäische Staaten erobert oder besetzt. Doch in der zweiten Jahreshälfte 1941 begann sich mit jedem Tag, den sich der Krieg gegen die UdSSR hinzog, ein wachsender Teil des deutschen Volkes zu fragen, wie und wann der »Endsieg« errungen werden solle. Nicht anders die Führungsgruppe des Regimes, in der Goebbels beispielsweise prophezeit hatte, das »Sowjetreich« werde wie Zunder auseinanderbrechen. Mit dem Unterschied, dass die im und um das Führerhauptquartier aufkommenden Zweifel tief verborgen wurden. Den Wehrmachtsberichten zufolge schien vorerst alles »planmäßig« zu verlaufen.
Anmerkung und Quellen
1 Samuel Hoare, konservativer britischer Politiker, bis 1940 wiederholt Mitglied im britischen Kabinett.
Kurt Pätzold: Der Überfall. Der 22. Juni 1941: Ursachen, Pläne und Folgen, Verlag Edition Ost, Berlin 2016, 255 Seiten, 14,99 Euro
Kurt Pätzold schrieb auf diesen Seiten zuletzt am 7.1.2016 zur wissenschaftlichen Edition von Adolf Hitlers »Mein Kampf«.
jW vom 06.05.2016