Tibet

Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren gruselig in dem kargen, dünn besiedelten Gebiet. Das Staatsoberhaupt kontrollierte fast 40 Prozent des Landes; der Adel, rund fünf Prozent der Bevölkerung, verfügte über ein weiteres Viertel; der Klerus, dem etwa 15 Prozent der Einwohner angehörten, besaß mehr als ein Drittel der nutzbaren Flächen. 20 Prozent der Bevölkerung waren ärmlich dahinvegetierende Nomaden, rund 60 Prozent fristeten als Leibeigene mit lebenslanger Bindung an die Scholle ihr Leben. Gar nicht erst mitgezählt wurden die Sklaven, deren Zahl sich nicht zuverlässig rekonstruieren lässt, die aber zumindest in einigen ländlichen Regionen einen zweistelligen Prozentanteil an der Gesamtbevölkerung erreicht haben dürften. Das Gebiet – es war Tibet zur Zeit seiner Befreiung, als die Volksrepublik es unter ihre Kontrolle brachte und begann, die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung aus der Leibeigenschaft, der Sklaverei und der oft tyrannischen Herrschaft der oberen Ränge des Klerus zu lösen.

Tibet ist ein autonomes chinesisches Gebiet, das auf einer gleichnamigen Hochebene auf der Nordseite des Himalaya-Gebirges liegt. Aufgrund ihrer gewaltigen Gipfel wird die Region auch als „Dach der Welt“ bezeichnet. Der Mt. Everest liegt an der Grenze zu Nepal. Die Hauptstadt Lhasa beherbergt den auf einem Hügel gelegenen Potala-Palast, die ehemalige Winterresidenz des Dalai Lamas. Der ebenfalls in Lhasa gelegene Jokhang-Tempel gilt als spirituelles Herz Tibets und wird aufgrund seiner goldenen Statue des jungen Buddhas verehrt.

Das „Autonome Gebiet Tibet“ ist seit dem 1. September 1965 eine Verwaltungseinheit der Volksrepublik China auf dem Gebiet des historischen Tibet.

Vorherrschende Religion ist der tibetische Buddhismus. Nach offiziellen chinesischen Angaben gibt es zurzeit in Tibet über 1700 Stätten für tibetisch-buddhistische Aktivitäten mit etwa 46.000 buddhistischen Mönchen und Nonnen. Weiterhin gibt es in Tibet vier Moscheen für über 3000 Muslime (Angehörige der Hui-Nationalität) und eine katholische Kirche für über 700 Katholiken.

Seit dem Jahr 2002 besitzt die tibetische Sprache im „Autonomen Gebiet Tibet“ den gleichen Rechtsstatus wie das landesweit gebräuchliche Hochchinesisch. Seitdem ist die tibetische Sprache und Schrift Teil des Lehrprogramms aller Schulen. Für wichtige Konferenzen, Versammlungen und Sitzungen oder vor Gericht legt das Gesetz fest, dass jeder sowohl die tibetische Sprache als auch Han-Chinesisch verwenden kann. Ein gebildeter Bürger in Tibet sollte also sowohl die tibetische wie auch die chinesische Sprache beherrschen.

Alle Kreise Tibets sind an das nationale Selbstwählnetz Chinas angeschlossen und es gibt auch wie in ganz China Internetanschlüsse. Momentan wird das Mobilfunknetz flächendeckend ausgebaut.

Die Industrie ist noch gering entwickelt, sie wird aber von der chinesischen Zentralregierung unterstützt und wächst sehr schnell. Es existiert eine Bergbauindustrie für den Abbau von Eisen, Gold, Lithium, Kupfer, Salz, Borax. Bei Lithium und Borax hat Tibet die weltweit größten Vorkommen.

Eine weitere wirtschaftliche Hauptbranche ist die Baustoffindustrie.

Das traditionelle Verkehrsmittel sind Karawanen von Tragtieren (Yaks). Dies war bis vor 50 Jahren das einzige Verkehrsmittel, zumal es keine Straßen gab. Heute ist das Verkehrswesen im Wesentlichen vom Straßentransport dominiert. Seit der Annexion Tibets durch die Volksrepublik China (1951) wurden über 20.000 km Fernstraßen angelegt. Es wurden Verbindungen nach Nepal, Sikkim, Xinjiang, Qinghai und Sichuan geschaffen, deren Qualität ständig verbessert wird.

Trotz des bisherigen Straßenbaus ist ein Hauptfaktor, welcher die wirtschaftliche Entwicklung Tibets behindert, die schwache Infrastruktur. Deshalb werden zurzeit beschleunigt Eisenbahnlinien, Straßen, Flughäfen, die Stromversorgung und die Telekommunikation auf- und ausgebaut.

Der Friendship-Highway war bis vor wenigen Jahren eine schwierig zu befahrende Schotterpiste zwischen der Stadt Lhasa und der Brücke der sino-nepalesischen Freundschaft an der tibetisch-nepalesischen Grenze in Nyalam. Heute ist die gesamte Strecke mit einer modernen, asphaltierten Straße ausgebaut.

Von 2001 bis 2005 wurde die Lhasa-Bahn gebaut, eine 1125 km lange Eisenbahnstrecke von Golmud in Zentralchina bis zur tibetischen Hauptstadt Lhasa. Es ist eine Eisenbahnstrecke überwiegend 4000 m über dem Meeresspiegel. Seit 2007 können mit dieser Bahnstrecke Güter wie Öl, Kohle, Baustoffe, Güter aus dem Bergbau Tibets und anderes zu einem Bruchteil der bisherigen Kosten über eine Bahnstrecke befördert und müssen nicht mehr mit Lastwagen über die Landstraßen Tibets transportiert werden. Dadurch hat die Lhasa-Bahn eine Schlüsselposition in der weiteren Wirtschaftsentwicklung Tibets.

Die Eisenbahnlinie hat heute eine große Bedeutung für die Tourismusbranche. Kritiker befürchten jedoch, dass damit der Zuzug von Han-Chinesen erleichtert und das ethnische Gefüge zu Ungunsten der Tibeter verändert wird. Allerdings wird vom chinesischen Tiefland aus Lhasa heute bereits mit einem Bus in zwei Tagen erreicht.

Von 2010 bis 2014 wurde die Bahnlinie bis nach Xigatse erweitert. Der Bau der Strecke war sehr aufwändig. Ungefähr die Hälfte der Strecke verläuft in Tunneln oder auf Brücken. Eine Erweiterung der Strecke bis zur Hauptstadt Nepals, nach Kathmandu, ist in der Planung. Dies beunruhigt die indische Staatsführung, denn bisher liegt Nepal, durch Handel und Verkehr, im indischen Einflussbereich.

Das Autonome Gebiet Tibet verfügt derzeit (Stand: 2013) über fünf zivile Flughäfen: den Flughafen Lhasa-Gonggar in der Nähe der Hauptstadt, den Flughafen Qamdo-Bamda in der Stadt Qamdo und den Flughafen Nyingchi-Mainling der Stadt Nyingchi; 2010 wurden die modernen Flughäfen Xigazê im Regierungsbezirk Xigazê sowie Ngari eröffnet.

Derzeit in Bau ist der in einer Höhe von 4.436 Metern gelegene Nagqu Dagring Airport im Regierungsbezirk Nagqu, welcher nach seiner Fertigstellung der höchstgelegene Flughafen der Welt werden soll.

Von Mittwoch bis Freitag hat Chinas Präsident Xi Jinping Tibet aus Anlass des 70. Jahrestages seiner Befreiung im Jahr 1951 bereist. Xi traf am Mittwoch in der Großstadt Nyingchi im Osten Tibets ein, ließ sich über die lokale Entwicklungsplanung und Maßnahmen zum Umweltschutz informieren und fuhr anschließend mit dem Zug nach Lhasa. Die Strecke ist seit einem Monat an das chinesische Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen. Das bringt der Bevölkerung größere Mobilität und begünstigt die Verbesserung des Lebensstandards in dem abgelegenen Gebiet. Tibet ist eine der Regionen, in denen Beijing noch im vergangenen Jahr große Anstrengungen unternahm, um die extreme Armut auszurotten. Das ist letzten Endes gelungen.

Der westliche Blick auf Tibet richtet sich freilich gewöhnlich auf anderes – auch Freitag, als über Xis Tibet-Reise informiert wurde. An erster Stelle steht üblicherweise der Dalai Lama, der bis zu ihrer Befreiung durch die Volksrepublik über die tibetischen Leibeigenen und Sklaven herrschte. Dass der Exponent einer derartigen Herrschaftsordnung in Zeiten von »Black Lives Matter« immer noch Anerkennung genießt, lässt sich nur dadurch erklären, dass er den westlichen Mächten als Instrument im Kampf gegen die Volksrepublik dient. Längst ist umfassend dokumentiert, wie der Dalai Lama in den 1950er Jahren ausführlich mit der CIA konspirierte, um Tibet aus der Volksrepublik herauszubrechen. Das Ziel hatten bereits die britischen Kolonialherren in Indien verfolgt, als sie im Jahr 1914 versuchten, die geschwächte Regierung der jungen Republik China zur Unterzeichnung der Simla Convention zu bewegen. Diese hätte das völkerrechtlich zu China gehörende Tibet faktisch eigenständig gemacht, weshalb die chinesische Regierung Londons koloniale Anmaßung nicht unterschrieb. Das Ziel, China durch Förderung der tibetischen Separatisten zu schwächen, verfolgen die ehemaligen Kolonialmächte bis heute.

Mittelalter beendet

Vor 60 Jahren floh der Dalai Lama aus China. Er konnte die Modernisierung Tibets nicht aufhalten.

Manchmal ergreifen auch Boddhisattvas ganz irdisch die Flucht. Der 14. Dalai Lama, der von seinen Anhängern als eine solche buddhistische Heiligkeit verehrt wird, hat sich vor 60 Jahren, am 17. März 1959, aus seiner Heimat Tibet ins benachbarte Indien abgesetzt. Der Anführer der buddhistischen »Gelbmützen«, mit bürgerlichem Namen Tenzin Gyatso (Ehrentitel: »Wunscherfüllendes Juwel«, »Ozean der Weisheit«, oder, schlichter: »Seine Heiligkeit«), war 1953 als Sohn einer kinderreichen Bauernfamilie geboren worden. Sein Leben wie das seiner Familie sollte sich grundlegend ändern, als er als Kleinkind von einer Mönchsdelegation entdeckt wurde: Als Wiedergeburt des verstorbenen 13. Dalai Lama, eines der höchsten Würdenträger im damaligen Tibet.

1940 wurde der nunmehr Viereinhalbjährige in Lhasa, der Hauptstadt Tibets, inthronisiert. Tibet, ein Bestandteil Chinas seit vielen hundert Jahren, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts gänzlich unter die Fuchtel eines theokratischen Feudalregimes geraten. Im Jahre 1894 gelang es dem erwähnten 13. Dalai Lama mit Schützenhilfe der britischen Imperialisten, den chinesischen Statthalter aus Lhasa zu vertreiben. 1911 stürzte die bürgerlich-demokratische Revolution die letzte chinesische (Qing-) Dynastie, in den darauf folgenden Revolutions- und Bürgerkriegswirren ergriff der 13. Dalai Lama die Initiative: 1913 erklärte er Tibet für unabhängig.

Sehr weit her war es damit nicht. Kein anderes Land der Welt erkannte den neuen Staat an; auch fehlte die chinesische Unterschrift auf dem Unabhängigkeitsdokument. In Tibet entstand eines der barbarischsten Systeme, das die Erde kannte: 95 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten, regelmäßige Kindesentführungen frischten den Bestand an Mönchen auf. Der Bevölkerung waren alle Segnungen der Moderne unbekannt. Angefangen beim Fehlen westlicher Medizin, das eigentlich harmlose Krankheiten zur tödlichen Bedrohung machte, glich Tibet einem Reich, das in der grauen Vorzeit stehen geblieben war. Leibeigenschaft, gar Sklaverei gehörten zum Alltagsbild. Im krassen Gegensatz zur unbeschreiblichen Armut der Bevölkerung lebt die Elite des Landes, der buddhistische Klerus und die Aristokratie aus Lhasa. Im »Potala«, dem damaligen Sitz des Dalai Lama, wurde ein ungeheurer Goldschatz, über Jahrhunderte der Bevölkerung abgetrotzt, verwahrt.

Am 1. Oktober 1949 rief Mao Zedong nach dem Sieg im Bürgerkrieg die Volksrepublik China aus. Die geschlagenen Nationalisten der Guomindang zogen sich nach Taiwan zurück; neben dieser Insel und den Kleinkolonien Hongkong und Macao war nun Tibet das einzige Territorium des Landes, das noch nicht befreit war. Es konnte 1950/51 durch einen nahezu unblutigen Einmarsch der Volksbefreiungsarmee zurückerobert werden, anschließend kam es zur Absetzung des probritischen Regenten Dhagza. Statt seiner wurde der 16jährige Dalai Lama, wiewohl inthronisiert, doch bis dahin nicht an den Regierungsgeschäften beteiligt, vorzeitig eingesetzt. Der Fall Tibets versetzte die Theokraten Clique in Lhasa in Furcht: Überstürzt und mit dem Gold im Gepäck verließen die »Gelbmützen«-Anführer die Hauptstadt und flohen in Richtung indische Grenze. Man wollte die neuen Herren zunächst in Ruhe beobachten. Rasch kehrten die Würdenträger jedoch zurück; eine dauerhafte Flucht hätte die Aufgabe aller Besitztümer bedeutet.

Diese Überlegung schien gerechtfertigt: Die chinesische Regierung setzte ein 17-Punkte-Abkommen auf, das unter Berücksichtigung der besonderen Zustände in Tibet nur die Leibeigenschaft in die Geschichtsbücher verbannte. Der Klerus und seine Klöster, der Adel und seine Landgüter blieben unangetastet. Die Soldaten mit dem roten Stern an der Mütze kamen in friedlicher Absicht und hatten nicht vor, den Dalai Lama abzusetzen. Doch die Boten der neuen Zeit lösten eine Eigendynamik aus: Die Bauern legten Gebetsmühle und Büßergewand ab und hinterfragten die Herrschaftsmuster, die Nachrichten der wirtschaftlichen Erfolge aus anderen Teilen Chinas gelangten auch nach Tibet. Der Einmarsch der Volksbefreiungsarmee beendete das Mittelalter. Selbst der Dalai Lama hielt es noch ganze neun Jahre gut mit den neuen Herrschern aus – er wurde gar als Vizepräsident in den Nationalen Volkskongress (das chinesische Parlament) gewählt. Die chinesische Zentralregierung handelte nach dem Prinzip der Selbstbefreiung und gestattete weitgehende Autonomie, insbesondere in Fragen Freiheit der Religionsausübung und Verwaltung. Die Volksrepublik übernahm nicht einmal die tibetische Polizei, sondern nur die militärische Präsenz an den Außengrenzen.

Das 17-Punkte-Abkommen wurde schließlich 1959 einseitig durch die tibetische Feudalkaste gebrochen, was zu ihrer Absetzung und durchgreifenden demokratischen Reformen (wie einer Landreform) führte. Die alten Herrscher konnten sich selbst mit den nur minimalen Verlusten nach 1950 nicht abfinden, und insbesondere die Großgrundbesitzer rebellierten gegen das Ende der Leibeigenschaft. Für den seit dem vierten Lebensjahr von selbstherrlichen Mönchen in strenger Klausur erzogenen Dalai Lama, der vom Alltagsleben nichts und vom Rest der Welt höchstens durch den Mund des (damals in Tibet als Privatlehrer des Dalai Lama wirkenden) SA- und SS-Mannes Heinrich Harrer erfahren hatte, musste es schwer sein, die alten Denk- und Verhaltensmuster abzulegen. Die gesellschaftlichen Ursachen reichen freilich tiefer. Zwei seiner älteren Brüder (durch den Aufstieg Gyatsos war die ganze Familie in die Aristokratie aufgerückt) nahmen bereits im Jahr 1956 mit der CIA Kontakt auf. Ab 1958 wurde eine von dem Geheimdienst in den USA trainierte Truppe von 400 Guerillakämpfern im nepalesischen Berggebiet stationiert, das überwiegend von Tibetern besiedelt ist. Dort wurden weitere ethnische Tibeter rekrutiert, von der CIA gedrillt und bewaffnet. Sie konnten »den Chinesen mehrere Male erheblichen Schaden zufügen«, wie der Dalai Lama nicht ohne Genugtuung in seiner Autobiographie feststellte.

Der bis dahin zaudernde »Gelbmützen«-Anführer konnte von seinen Angehörigen mit dem Gerücht, die Chinesen wollten ihn kidnappen, zur Beteiligung am Aufstand überredet werden. Die Rebellion wurde niedergeschlagen und die Rebellenarmee entwaffnet, soweit sie nicht ins sichere Ausland entkam. Mit ihnen, den geschlagenen alten Kräften Tibets, floh der Dalai Lama erneut und endgültig. Sein heutiges Refugium heißt Dharamsala und liegt im Bundesstaat Himachal Pradesh, Indien. Dieses ihm 1960 zur Verfügung gestellte Gebiet war früher ein britischer Garnisonsstützpunkt und bis zur Ankunft des Dalai Lama und seines Gefolges eine Art Geisterstadt – nun hielt die sogenannte »Exilregierung Tibet« Einzug, um nicht nur eine geistige, sondern auch eine ganz weltliche Herrschaft über einige tausend freiwillig exilierte Tibeter und eher unfreiwillig dort lebende Inder anzutreten. Sie währt, von keinem Land der Welt anerkannt, bis heute.

Wenn es nur gegen China geht

Wie können sanftmütige Menschenrechtler den Dalai Lama mögen? Ein leuchtend rotes Gewand mit gelbem Tuch über der Schulter; ein schmales Auge mit kleiner Braue, ein größeres mit kräftigerem Strich; auffällig vor allem der Mund, ungleichmäßig auch er, mit beinahe schelmisch vorgestreckter Unterlippe: Das ist ein Porträt des 14. Dalai Lama, »Seine Heiligkeit«, weltreisend in Sachen Tibet und Spiritualität. Der Maler tritt auf und erklärt, wie sehr ihn das Charisma des Dalai Lama beeindruckt habe, die Sanftmut, die Friedfertigkeit.

Der Künstler heißt George W. Bush und war von 2001 bis 2008 Präsident der USA. Manche Iraker würden dessen Frage an sich selbst, ob er denn so friedlich sein könne wie der Dalai Lama, mit Nein! beantworten mögen. Damit wären sie allerdings voreilig. Auch der Dalai Lama entdeckte seine Friedensliebe erst, nachdem sich der seit 1957 von der CIA unterstützte Guerillakrieg seiner Männer in Tibet gegen China als aussichtslos erwiesen hatte und die Dollars ausblieben.

Nun bilden Filme über den Dalai Lama mittlerweile ein Genre, das festen Regeln folgt. Als unhinterfragbar gelten sein Pazifismus, seine geistige Ausstrahlung und das Opferleid seines Volkes. Sogar die wirklich nicht anspruchsvolle Dramaturgie, durch einen Konflikt von politischem Ziel und erforderlichen Mitteln ein Minimum an Spannung herzustellen, wird verschmäht. So zeichnen sich diese Dokumentationen durch eine personenkultige Verehrung aus, deren Ausmaß Kim Il Sung womöglich peinlich gewesen wäre.

»Der letzte Dalai Lama? « von Mickey Lemle bildet keine Ausnahme. Die Geschichtsfälschungen sind die üblichen: Ein Gefolgsmann des Dalai Lama darf Eindruck mit der Behauptung schinden, in chinesischer Haft nur die eine Sorge gehabt zu haben: nämlich das Mitgefühl mit seinen Peinigern zu verlieren. Die Behauptung, nie habe sich Gewalt der tibetanischen Traditionalisten gegen Chinesen gerichtet, ist freilich ebenso geschwindelt wie: »Der Horror begann 1950«, nämlich mit dem Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet. Tatsächlich herrschte der Horror vorher. Der Palast des Dalai Lama hatte 1.000 Räume, die übergroße Mehrheit der leibeigenen oder versklavten Tibeter drängte sich in winzigen Verschlägen zusammen. Mönche und Großgrundbesitzer verprassten die Produktion. Abgeschnittene Nasen und Ohren, ausgestochene Augen: Das war gängige Strafpraxis. Gerne hackte man Gliedmaßen ab oder zog den Opfern die Haut herunter, bei lebendigem Leibe. Weil der Buddhismus das Töten verbietet, ließ man die Menschen langsam verrecken. Ohnehin musste, wer ins Leid geboren wurde, irgendwas Übles im vorigen Leben verbrochen haben, schon das rechtfertigte die Verhältnisse.

Dass Bush einen Feudalherren schätzt, der einer konkurrierenden Großmacht Probleme bereitet, ist verständlich. Nun gibt es aber sanftmütige Alternative sowie uninformierte Menschenrechtler, die mit Bush nichts zu schaffen haben wollen und den Dalai Lama trotzdem mögen. Gegen seine Absicht macht Lemle klar, weshalb das so ist und wo die Berührungspunkte liegen. Der Schwerpunkt seines Films liegt nämlich keinesfalls auf der Politik, sondern auf dem, was Lemle als das spirituelle Erbe des Dalai Lama begreift.

Dieses Erbe wird mit viel Aufwand gefördert. Wissenschaftler erstellen einen »Atlas der Emotionen«, ein Buch mit vielen bunten Schautafeln, auf denen Kreise und Zacken mit Wörtern verbunden sind, die Gefühle bezeichnen. Wie sinnvoll auch immer ein solches Unterfangen sein mag: Die Unterwürfigkeit, mit der eine Forscherin dem großen Meister ihre Bildchen vorweist und Belehrungen empfängt, ist ein Hohn auf wissenschaftliche Wahrheitsfindung.

Dieses Treiben mag Lohn und Brot für ein paar Leute bedeuten, die ansonsten auf einer Parkbank nächtigen müssten. Viel Schaden dürfte es nicht anrichten. Das ist anders in dem kanadischen Distrikt British Columbia, wo die meisten Schulbezirke spirituelle Erziehung im Sinne des Dalai Lama betreiben. Die armen Kleinen werden etwa in einen »Dankbarkeits-Kreis« gesetzt, wo sie Selbstbescheidung mit dem Vorhandenen zu lernen haben. Nach einem Besuch des großen Meisters werden die Kinder gelobt, sie hätten ihre »Achtsamkeit« sowie »Atmen und Denken« vorbildlich eingesetzt.

Überhaupt ist der Dalai Lama gegen negative Gefühle. Wie er weiß, machen sie krank. Das ist freilich eine Teilwahrheit; und Teilwahrheiten, setzt man sie absolut, werden falsch. Der Dalai Lama schlägt vor, einfach das Gefühl zu ändern. Oft genug aber haben negative Gefühle Ursachen in einer Realität, die es abzuschaffen gilt. Dieser Gedanke fehlt im Film – soweit es nicht gegen China geht.

Die Verbindung ist nun klar. Expräsident Bush verteidigt die bestehende Ordnung; das ist sein Job. Das spirituelle Milieu will ebenfalls nicht die Verhältnisse ändern, sondern nur die innere Einstellung ins Positive wenden. Der »Dankbarkeits-Kreis« der zur Spiritualität genötigten Schüler entspricht dem Karrierismus der erwachsenen Fans des Dalai Lama. Natürlich sind sie gegen Herrschaft, aber nur gegen die, die weit genug weg ist, nämlich die chinesische. Dafür nehmen sie auch die intellektuelle Zumutung in Kauf, an den Dalai Lama als Reinkarnation von 13 Vorläufern zu glauben.

Seit Beginn des Horrors in Tibet 1950 gibt es dort erstmals Schulen und Krankenhäuser für alle, Universitäten wurden eingerichtet, kein Bauer verhungert heute mehr. Mag das Rechtssystem noch unzureichend sein – immerhin gibt es eines. Das ist, dank China, ein materieller Fortschritt, und keine Spiritualität wird diese Erfahrungen rückgängig machen können.

Hanswurstiaden heute: Der Dalai Lama holte sich in Passau einen Preis ab

Was den Dalai Lama ausgerechnet in die ostniederbayerische Provinz verschlagen hat, dahin, wo Deutschland mit Abstand am schwärzesten ist? Vielleicht kam er sich ja gerade in dem Passauer Mief aus gefühlt tausendjähriger Herrschaft von CSU und katholischem Klerus wie zuhause vor.

Jedenfalls nahm er mit Begeisterung die Einladung an, als Ehrengast dem niederbayerischen Forum »Menschen in Europa« beizuwohnen, das, gesponsert von der Passauer Neuen Presse (PNP), alljährlich Politprominenz sogenannter wertekonservativer Ausrichtung zu einem »Austausch jenseits des Protokolls« auf die Bühne bittet. Helmut Kohl war schon dagewesen, auch Gerhard Schröder oder Horst Köhler, vor ein paar Jahren sogar Michail Gorbatschow. In diesem Jahr also der Dalai Lama, der, wie Angela Merkel oder Madeleine Albright vor ihm, mit dem sogenannten MiE-Award ausgezeichnet werden sollte.

In der PNP war kaum mehr von anderem die Rede als vom anstehenden Besuch des »tibetischen Staatsoberhauptes« (!), seitenweise war von seiner legendären Ausstrahlung die Rede, seinem Charisma, seiner nachgerade ozeanischen Weisheit. Eintrittskarten bekamen neben den geladenen Gästen nur Abonnenten der PNP, die gleichwohl 25 Euro pro Ticket hinlegen mussten. 20 Karten wurden mit großem Brimborium verlost, wozu auch eine Reihe an Quizfragen zu beantworten war, etwa »Wie lautet der Mönchsname des 14. Dalai Lama? a) Obiwan Kenobi, b) Tendzin Gyatsho, c) Mahatma Gandhi«, oder »Welcher Begriff spielt im Buddhismus eine zentrale Rolle? a) Konto, b) Karma, c) Kebab«.

Solcherlei Erwartungshaltung wurde nicht enttäuscht: Mit einfältigem Grinsen im Gesicht zog der »Gottkönig a.D.« am Dienstagnachmittag in die Passauer Dreiländerhalle ein, wie früher Edmund Stoiber zum Politischen Aschermittwoch der CSU, der seit dem Abriss der berüchtigten Nibelungenhalle vor ein paar Jahren in dem schmucklosen Mehrzweckkasten am Rande der Stadt stattfindet. Nicht wenige Passauer trauern heute noch um die 1934 erbaute Nibelungenhalle, die jahrzehntelang Veranstaltungsheimstatt war nicht nur Franz Josef Straußens, sondern auch der örtlichen NPD. Als Grüß Gott-August für den Dalai Lama hatte man Franz Alt aufgeboten, als Laudator Roland Koch. Und statt der Hanswurstiaden, die der Dalai Lama üblicherweise zu Beginn seiner Auftritte darbietet, gab es diesmal Kinderkopftätscheln – zwei trachtenausstaffierte Schulkinder hatten ihm auf der Ziehharmonika etwas vorgespielt –, gefolgt von den üblichen Platitüden und pseudophilosophischen Auslassungen, die, vorgetragen in Grammatik und Wortschatz eines Sechsjährigen, vielen im Saale Kopfschütteln abnötigten: Wie bitte? Der Ozean der Weisheit?

Für welche Leistung genau dem Dalai Lama der »Menschen-in-Europa«-Award verliehen wurde, blieb, wie üblich bei den inflationär inszenierten Preisverleihungen an »Seine Heiligkeit«, im dunklen. Offenbar glaubte man, der Glanz all der vorherigen – und ebenso unbegründeten – Ehrungen, einschließlich des Friedensnobelpreises 1989, falle irgendwie auch auf Passau und die PNP zurück. Laudator Roland Koch jedenfalls, der sich in manirierter Innengekehrtheit gefiel, wusste nichts zur Klärung beizutragen. Die PNP muss sich insofern fragen lassen, weshalb sie ihren Europapreis einem ausgewiesenen Antidemokraten zuerkannt hat, einem Mann, der als »Gottkönig« einem der ausbeuterischsten Systeme vorstand, die es je in der Menschheitsgeschichte gab: einem feudaltheokratischen Priesterstaat, in dem bis Mitte des 20. Jahrhunderts Leibeigenschaft und Sklaverei vorherrschten.

Im Übrigen lief die Veranstaltung der aktuellen Entwicklung heillos hinterher. Offenbar hatte man in Passau noch nicht mitbekommen, dass der Marktwert des Dalai Lama zusehends erodiert. Zu seinem 75. Geburtstag Anfang Juli hatten ihm noch nicht einmal jene Medien gratuliert, die sich seit Jahren in schwiemeliger Hofberichterstattung über ihn ergangen. Das fortschreitende Abblättern der Begeisterung für den tibetischen Oberlama dürfte zum einen in der gnadenlosen Manipulation der Westmedien begründet sein, die er im Vorfeld der Olympischen Spiele in Beijing im Frühjahr 2008 in Szene gesetzt hatte: in seinen absurden Versuchen etwa, die marodierenden und um sich prügelnden tibetischen Mönche, die ganze Straßenzüge Lhasas in Schutt und Asche gelegt und den Tod zahlreicher chinesischer Geschäftsleute zu verantworten hatten, als verkleidete chinesische Soldaten auszugeben; und zum anderen in der »Neuen Etappe der Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und Deutschland«, die Kanzlerin Merkel vor dem Hintergrund der selbstverschuldeten Finanz- und Wirtschaftskrise ausgerufen hat. Letztlich war China der einzige Handelspartner gewesen, an den Deutschland 2009 trotz Krise mehr exportieren konnte als zuvor.

Bei ihrem Staatsbesuch suchte Merkel unter demonstrativen Kotaus um Hilfe Beijings bei der Krisenbewältigung in Europa nach. Ein die Chinesen brüskierendes Hofieren des Dalai Lama, wie es vor der Krise noch als Zeichen politischer und persönlicher Charakterstärke gegolten hatte – im September 2007 war die tibetische »Heiligkeit« noch hochoffiziell im Kanzleramt empfangen worden –, verbietet sich seither.

Anmerkungen und Quellen

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Tibet – Die Geschichte meines Landes. Der Dalai Lama im Gespräch mit Thomas Laird, Scherz-Verlag, ISBN 978-3-502-15000-8.

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Diercke Schulatlas, George Westermann Verlag, 1914, S. 26–27. Die 1933 erschienene 74. Auflage dieses Atlas-Werkes hingegen zeigt Tibet, inklusive der heutigen chinesischen Provinzen Qinghai und Gansu sowie Gebieten von Westsichuan und Yünnan als selbständigen Staat (S. 34–35).

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Melvyn C. Goldstein „On modern Tibetan History: Moving Beyond Stereotypes“ Columbia University Press Melvyn C. Goldstein, ebenda

Andreas Lorenz: Dilemma auf dem Dach der Welt, spiegel.de vom 9. Juni 2012, abgerufen am 9. Juni 2012

Revolt of the Monks: How a Secret CIA Campaign Against China 50 Years Ago Continues to Fester; A Role for Dalai Lama’s Brother (Memento vom 1. März 2012 im Internet Archive)

Th. Heberer: Peking erlässt die „Verwaltungsmethode zur Reinkarnation eines Lebenden Buddhas im tibetischen Buddhismus“. Analyse vor dem allgemeinen Hintergrund der Tibet-Frage. Zeitschrift für Chinesisches Recht, Heft 1/2008 (PDF) – Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven: Heftige Unruhen in Tibet, Indien und Nepal.

Chinas politische Führung wittert hinter der Serie von Selbstverbrennungen von Tibetern eine gezielte Aktion des Dalai Lama;, Spiegel, 7. März 2012.

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DTV-Lexikon in 20 Bänden, April 1974, ISBN 3-423-03070-4

In March 1959, the Chinese government dissolved the aristocratic local government of Tibet and freed more than 1 million serfs. Pressemitteilung der chinesischen Botschaft in den USA.

Geschichte Tibets – Die friedliche Befreiung Tibets 1951. China Internet Information Center (deutsche Übersetzung).

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