Geburtswehen einer Anti-Hitler-Koalition. Erst im Krieg vereinigen sich die antifaschistischen Kräfte.
Hitler gelang es, so Teil I, zwischen 1933 und 1939 alle Bestrebungen für eine gegen Nazideutschland gerichtete Koalition zu verhindern und ihre möglichen Kandidaten zu vereinzeln: England wollte die antikommunistische Kraft Deutschlands für eigene Ziele nutzen, Polen beabsichtigte, sich gegen den Aggressor allein zu wehren, die Tschechoslowakei bot gegen ihre schubweise Annexion keinen entscheidenden Widerstand, Frankreich ordnete sich mehr und mehr Englands Politik unter.
England und Frankreich hatten keine Eile, die Militärverhandlungen mit der UdSSR aufzunehmen. Ihre Delegationen wählten den längsten Reiseweg nach Moskau und kamen ohne Vollmacht, irgend etwas mit den Sowjets zu unterzeichnen. Die Leichtsinnigkeit des Westens scheint aus der heutigen Sicht unbegreiflich, denn alle Aufklärungsdienste der Welt wußten spätestens seit April 1939, als Hitler seine Unterschrift unter den »Plan Weiß« (für den Überfall auf Polen – d. Red.) setzte, daß der Angriff vor dem 1. September erfolgen sollte. Der Generalstab der Wehrmacht wollte der Schlammzeit auf polnischen Straßen unbedingt zuvorkommen.
In dieser Situation war es ein offensichtlicher Wahnsinn, lediglich Scheinverhandlungen mit dem einzigen Land zu führen, das Polen wirklich helfen konnte. Nicht minder wahnsinnig war die hartnäckige Weigerung Polens, die Zusage für den Durchmarsch der Truppen der Roten Armee zur deutschen Grenze zu geben. (Das sowjetische Militär schlug vor, die Verantwortung für einen bestimmten Abschnitt der künftigen Front zu übernehmen und den Aufenthalt seiner Truppen auf dem polnischen Territorium nach den Bedingungen Polens zu gestalten.) Die physische Präsenz der Roten Armee an jener Stelle, an der Hitler anzugreifen plante, wäre vielleicht das einzige, was ihn hätte zwingen können, seine Pläne zu ändern – wenn überhaupt. Eine Woche vor dem deutschen Überfall lehnte Warschau noch einmal die sowjetische Hilfe in einer verletzenden Weise ab: »Wir wollen nicht von den Sowjets verteidigt werden!« Man könnte annehmen, daß England durchaus im Stande war, diese selbstmörderische Haltung der polnischen Obristen zu modifizieren, aber London tat nichts, was einen energischen und aussichtsreichen Widerstand an der Ostfront sichern konnte.
So war die Lage, als Hitler überraschend mit dem Angebot kam, einen Nichtangriffspakt abzuschließen, was der Sowjetunion für eine Zeitlang den Krieg hätte ersparen können. Der oberste Nazi verfolgte dabei natürlich seine eigenen Interessen; er wollte vor allem England von einer »unangemessenen« Unterstützung Polens abschrecken. Dafür war er im Unterschied zu London bereit, einen Preis zu zahlen: Die »Lebensraum«-Gewinnung sollte sich vorläufig nicht auf Rußland erstrecken. Die Zusage aus Moskau war unwillig, aber zwangsläufig, denn die UdSSR hatte wahrlich keine Wahl. Sechs Jahre lang hatte sie die Hand in Richtung Westen ausgestreckt und sechs Jahre lang hatte der Westen ein gleichberechtigtes Bündnis mit Moskau verschmäht bzw. gebrochen. Bis zur letzten Möglichkeit schob die Sowjetunion den Besuch des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop in Moskau auf und wartete, ob ein Fortschritt bei den Militärverhandlungen mit Engländern und Franzosen, die in der russischen Hauptstadt liefen, denkbar wäre. Diesen Fortschritt gab es nicht. Eine Woche vor dem Kriegsbeginn dachten London, Paris und Warschau an Intrigen und an mögliche Absprachen mit dem Aggressor und nicht an eine wirksame Abwehr dessen Angriffs. Hitler schickte seinen Außenminister nach Moskau, während als höchster Repräsentant der Entente ein Abteilungsleiter im Foreign Office Rußland im Sommer 1939 besuchte.
Dreiergespräche scheitern
Die militärtechnische Vorbereitung des Überfalls auf Polen wurde in Deutschland planmäßig zum 15. August 1939 abgeschlossen. Der Zufall – oder war es keiner? – wollte es, daß gerade Mitte August endlich Gespräche zwischen den Militärdelegationen der UdSSR, Englands und Frankreichs in Moskau begannen. Die in die Einzelheiten der Gespräche nicht eingeweihte Außenwelt hoffte noch, daß die Verhandlungen zu einer Einigung führen würden. Hitler wurde nervös. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, daß es nach der raschen Zerschlagung Polens zu einem neuen Münchner Abkommen mit England und Frankreich kommen könnte (siehe Teil I – d. Red.). Dafür aber mußten Bedingungen für mögliche Dauerkämpfe im Osten abgeschafft werden, was bei einem Konflikt mit Beteiligung der Sowjetunion auch nach dem Ende des Polen-Feldzugs nicht auszuschließen wäre. Das Umwerben Moskaus wurde folglich intensiviert.
Im Mai 1939 begann das »Deutsche Reich«, die Bereitschaft der Führung der UdSSR nach Verbesserung des gemeinsamen Verhältnisses zu sondieren. Am 5. Mai erging an Moskau eine positive Antwort auf deren Anfrage wegen der Lieferung von Militärgütern an die UdSSR, die seinerzeit in der Tschechoslowakei bei den Skoda-Werken in Auftrag gegeben worden waren. Am gleichen Tag versicherte der neue deutsche Botschafter in Ankara, Franz von Papen, seinem sowjetischen Kollegen, daß es keine Fragen gebe, die »unüberwindliche Gegensätze zwischen den beiden Staaten« schüfen. Am 20. Mai informierte der deutsche Botschafter in Moskau, Friedrich-Werner von der Schulenburg, den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare und Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow darüber, daß das Auswärtige Amt bereit sei, einen Abgesandten nach Moskau kommen zu lassen, um die Verhandlungen über ein neues Wirtschaftsabkommen zu beschleunigen. Molotow antwortete, man hätte in der UdSSR den Eindruck, Berlin führe irgendein politisches Spielchen um dieses Abkommen; daran wolle Moskau nicht beteiligt sein.
Am 17. Juni erklärte Schulenburg dem sowjetischen Geschäftsträger in Berlin Georgi Astachow, daß die deutsche Regierung »ernstlich bemüht ist, das Verhältnis zur UdSSR zu verbessern, weiß aber nicht wie«. Am 24. Juli schlug das Auswärtige Amt Astachow einen »Stufenplan« zur Verbesserung des bilateralen Verhältnisses vor: 1. erfolgreicher Abschluß der Verhandlungen über das Handels- und Kreditabkommen, 2. Normalisierung der Beziehungen im Presse- und Kulturbereich sowie Normalisierung der gegenseitigen Achtung, 3. politische Annäherung. Der Vertreter des Auswärtigen Amtes fügte hinzu: »Wiederholte Versuche der deutschen Seite, ins Gespräch über diese Themen zu kommen, sind ohne Antwort geblieben.« Ohne Antwort blieb auch dieser Versuch.
Am 2. August war Astachow unmittelbar von Ribbentrop empfangen worden, was äußerst ungewöhnlich anmutete. Ribbentrop erklärte: »Es gibt keine ernstzunehmenden Gegensätze zwischen unseren Ländern. Über alle Probleme, die sich auf das Gebiet vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee erstrecken, könnten wir uns mühelos verständigen. Davon bin ich fest überzeugt.« Als echter Diplomat fragte Astachow, wie sich denn der Herr Reichsminister die Verbesserung der Beziehungen konkret vorstelle? Ribbentrops Antwort: »Ich möchte zuerst wissen, ob die Sowjetregierung überhaupt geneigt wäre, Gespräche zu diesem Thema zu führen.« Und wieder schwieg Moskau. Am 13. August informierte das Auswärtige Amt Astachow über die Bereitschaft, einen hochgestellten Vertreter des Reichs für wirtschaftliche und politische Verhandlungen nach Moskau zu entsenden: »Ereignisse überstürzen sich, keine Zeit ist zu verlieren.« Auch dieses Mal erfolgte keine Antwort aus Moskau.
Am 14. August beauftragte Ribbentrop seinen Botschafter in Moskau, folgendes an Molotow auszurichten: »Deutschland hat keine Angriffsabsichten gegen die UdSSR. Die Reichsregierung ist der Meinung, daß es zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer keine Fragen gibt, die nicht zu beiderseitiger Genugtuung geregelt werden könnten. Hierzu gehören solche Fragen wie Ostsee, Baltikum, Polen, Süd-Osten usw.« Anschließend bat Ribbentrop, ihn in Moskau zur Beschleunigung der Lösung aller dieser Fragen zu empfangen. Moskau hüllte sich erneut in Schweigen.
Nazideutschland drängt
Jedoch ausgerechnet an diesem 14. August erreichten die Dreierverhandlungen in Moskau ihren Tiefpunkt. Der Chef der französischen Delegation teilte offiziell mit, daß im Ernstfall die Rote Armee der Wehrmacht an der sowjetisch-polnischen Grenze begegnen sollte, ohne das polnische Gebiet betreten zu dürfen. Der Volkskommissar für Verteidigung, Kliment J. Woroschilow, der die sowjetische Delegation leitete, bekräftigte die bekannte Position seiner Regierung, daß unter solchen Umständen die UdSSR keine Möglichkeit sähe, eine Militärkonvention und folglich den Bündnisvertrag zu unterzeichnen. Die westlichen Delegationen versprachen, noch einmal ihre Regierungen wegen dieses Problems nachzufragen. Am 17. August lagen die Antworten aus London und Paris immer noch nicht vor. Woroschilow sah kein Fortkommen. Die nächste Sitzung fand auf Bitte der Engländer nicht am 20., sondern am 21. August statt. Hatten die Deutschen Eile, zogen die Engländer und Franzosen die Sache ganz offensichtlich in die Länge. Auf der Sitzung vom 21. August gab es nichts Neues aus den westlichen Hauptstädten. Woroschilow unterbrach die Verhandlungen. Die Situation war äußerst eindeutig: Engländer, Franzosen und Polen dachten nicht daran, ein ehrliches und gleichberechtigtes Bündnis mit Rußland abzuschließen. Nun mußte Moskau entscheiden, was weiter zu tun ist.
Am 22. August, als die Nachricht vom bevorstehenden Besuch Ribbentrops in Moskau verbreitet wurde, bat der Chef der französischen Delegation um ein Gespräch bei Woroschilow und sagte ihm, Paris würde mit dem Durchmarsch der Roten Armee durch das polnische Gebiet einverstanden sein. Woroschilow bemerkte mit Recht, für den Durchmarsch wäre die Zusage nicht von Paris, sondern von Warschau erforderlich. Im Fall einer Zusage Warschaus aber wären die polnischen Militärs längst in Moskau, um die Details der künftigen Kriegsoperationen zu koordinieren. Eine Woche vor dem Kriegsausbruch gab es kein Anzeichen, daß vom Westen und von Polen ein Militärbündnis mit der UdSSR wirklich angestrebt wurde.
All diese Zeit hindurch zeigte sich Moskau äußerst zurückhaltend in seinen Kontakten zu den Deutschen trotz der wachsenden Ungeduld der Vertreter des »Deutschen Reichs«. Am 15. August teilte Molotow dem deutschen Botschafter mit, als erster Schritt zu einer Verbesserung der Beziehungen wäre die Unterzeichnung des Handels- und Kreditabkommens zu betrachten; Ribbentrops Besuch könne nicht in der nächsten Zukunft stattfinden, da er eine sorgfältige Vorbereitung brauche. Am 17. August bestätigte Molotow: »Bevor man Gespräche über die Verbesserung der politischen Beziehungen beginnt, müssen die Verhandlungen über das Handels- und Kreditabkommen abgeschlossen sein. Damit soll der erste Schritt zur Besserung des Verhältnisses unternommen werden. Der zweite Schritt wäre entweder die Bekräftigung des (deutsch-sowjetischen – I. M) Vertrages von 1926 (…), oder Abschluß eines Nichtangriffsvertrages plus ein Protokoll zu den außenpolitischen Fragen, an denen beide vertragschließenden Seiten interessiert sind.«
Letzte Chance der Westmächte
Am 19. August war das Handels- und Kreditabkommen unter Berücksichtigung aller sowjetischen Wünsche unterzeichnet. Am Vortag erhielt Schulenburg die Anweisung, angesichts der Wahrscheinlichkeit eines baldigen Beginns des deutsch-polnischen Krieges auf einem sofortigen Besuch Ribbentrops in Moskau zu bestehen – nur so könne während dieses Krieges den »russischen Interessen« Rechnung getragen werden. Das Auswärtige Amt hat bereits Eckpunkte eines Nichtangriffspaktes samt einem Sonderprotokoll über die Regelung der »Interessensphären im Ostseeraum, der Frage der baltischen Staaten usw.« vorbereitet. Am 19. August übergab Molotow Schulenburg einen sowjetischen Entwurf des Nichtangriffspaktes, betonte aber zugleich, daß der Besuch Ribbentrops erst eine Woche nach der Veröffentlichung des soeben unterzeichneten Handels- und Kreditabkommens stattfinden könne, also frühestens am 26. bzw. 27.August. Während die allgemeine Situation zu eskalieren drohte, wartete die Sowjetunion auf die Reaktion des Westens auf die Unterzeichnung des Wirtschaftsabkommens mit Deutschland.
Am 20. August wandte sich Hitler mit einem persönlichen Schreiben an Stalin. In ihm war offen vom kommenden Krieg mit Polen die Rede. Der Führer äußerte sein Einverständnis mit dem sowjetischen Entwurf des Nichtangriffspaktes und bat darum, Ribbentrop am 22., spätestens am 23. August zu empfangen. Nun war ein weiteres Ausweichen unmöglich geworden. Am 21. August übergab Molotow Stalins Zustimmung zu Ribbentrops Besuch am 23. August unter der Auflage, daß die Mitteilung von diesem Besuch am Morgen des 22. August veröffentlicht würde. Das gab dem Westen die letzte Chance zu reagieren, bevor es hoffnungslos zu spät war. Die Chance wurde nicht genutzt. Die französische »Einwilligung« zum Durchmarsch der Roten Armee durch das polnische Gebiet zur Abwehr des deutschen Angriffs auf Polen bei englischer und vor allem polnischer Weigerung konnte nichts ändern. Die Dinge nahmen ihren tragischen Lauf.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entscheidung des Kremls zugunsten des Nichtangriffspaktes mit Deutschland spielte die Unfähigkeit der baltischen Staaten, sich zu verteidigen. Dabei war die strategische Bedeutung dieser Region für die Sicherheit Rußlands ausschlaggebend. Die Perspektive eines deutschen Vorstoßes in Richtung Leningrad durch das Baltikum wertete man in Moskau als eine durchaus reale Gefahr. Der deutschen Besetzung dieser Länder stand nichts im Wege. Die baltischen Staaten verfügten nicht einmal über eine englische Phantomgarantie, wie sie Polen hatte. (Übrigens weigerten sich England und Frankreich kategorisch, das Baltikum in den geplanten Koalitionsvertrag mit der UdSSR als Schutzgebiet aufzunehmen.) Am 14. März 1939 fragte der lettische Geschäftsträger in Berlin seinen sowjetischen Kollegen: »Wird die UdSSR denn den Deutschen gestatten, Riga einzunehmen?« Am 17. März teilte ein sowjetischer Botschaftsrat aus Berlin nach Moskau mit: »Die Balten sind in Panik; sie sind verzweifelt und glauben nicht an die Möglichkeit, daß England und Frankreich den Deutschen eine Abfuhr erteilen; sie setzen alle ihre Hoffnungen darauf, daß wir diese Aufgabe übernehmen.« Sie baten aber die UdSSR nicht um einen Beistandspakt. Moskau bestand auch nicht darauf – der Zusammenstoß mit Deutschland im Baltikum wäre gerade das, was die westlichen Staaten des Münchner Abkommens erhofften – ein isolierter Konflikt zwischen den Deutschen und den Russen.
Was wäre, wenn …
Was wäre gewesen, hätte Moskau Hitlers Angebot abgelehnt? Hier begeben wir uns auf einen unsicheren Boden von Vermutungen und Mutmaßungen. Dasselbe aber tun tagaus tagein die Scharen von Anhängern jener Theorie, ohne den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Sowjetunion hätte der Zweite Weltkrieg überhaupt nicht stattgefunden. Viel plausibler erscheint hingegen die Annahme, Hitler hätte dennoch Polen angegriffen und, wie es in Wirklichkeit geschah, in zweieinhalb Wochen erledigt. Wenn er danach auch nicht gleich Rußland angegriffen hätte, stünde er jedoch bereits an der »alten« sowjetisch-polnischen Grenze in unmittelbarer Nähe von Lebenszentren der UdSSR, wobei er das Baltikum und Finnland sowieso in der Tasche gehabt hätte. Das bedeutet, daß in dem Moment, in dem es ihm beliebte, den Krieg gegen die Sowjetunion anzufangen, die Wehrmacht ihren Marsch auf Moskau von der Linie begonnen hätte, die zirka 300 Kilometer näher zur russischen Hauptstadt gelegen wäre. Von Leningrad gar nicht zu sprechen – die Grenze mit Finnland war nur 30 Kilometer von der Stadt entfernt, die estnische Grenze wenige Kilometer mehr. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß es Hitler gelungen wäre, die beiden Hauptstädte Rußlands auf Anhieb einzunehmen. Der Krieg hätte viel länger gedauert, die Zahl der Kriegsopfer wäre noch höher gewesen, der Ausgang der Kämpfe bedeutend ungewisser.
Natürlich brachte der Pakt auch Nachteile für die UdSSR – und zwar wesentliche. Vor allem auf der moralischen Seite. Die zentrale Macht des antifaschistischen Kampfes verwandelte sich unversehens in einen Vertragspartner von Nazideutschland. Nun sprach man miteinander, besuchte sich gegenseitig, unterschrieb gemeinsame Papiere. Offizielle Verlautbarungen des Deutschen Reiches wurden in den sowjetischen Zeitungen nachgedruckt. Weder die eigene Bevölkerung noch Sympathisanten der Sowjetunion draußen in der großen, weiten Welt waren auf solch eine radikale Kursschwenkung vorbereitet. Erst die überraschenden Erfolge der Wehrmacht zwangen Hitzköpfe einzusehen, ein unsicherer, brüchiger Frieden mit Hitler gäbe der Sowjetunion dennoch die Chance, sich auf den kommenden Kampf auf Leben und Tod besser vorzubereiten, von dessen Ergebnis das Schicksal nicht nur des eigenen Landes, sondern auch der ganzen Welt abhängig war.
Womöglich hätte man die gewonnene Atempause besser nutzen können, die Reform der Streitkräfte energischer vorantreiben, keine Trinksprüche auf das Wohl des Führers vorbringen sollen. Aber die Herren im Kreml hatten Angst, eine menschlich durchaus verständliche Angst vor dem Kriegsungeheuer »Deutsches Reich«. Daß Polen rasch zerschlagen würde, wußte man von vornherein, aber daß seine Eroberung in zweieinhalb Wochen geschah – die polnische Regierung flüchtete am 16.September ins Ausland –, kam völlig unerwartet. Nur eine Voraussage des Kremls hatte sich bewahrheitet: Der Westen tat buchstäblich nichts, um den Polen zu Hilfe zu eilen. Die Befürchtungen der sowjetischen Militärs, im Ernstfall stehe ein Duell zwischen der UdSSR und Deutschland bevor, hatten sich als begründet erwiesen.
Die Meinung der Militärexperten dagegen, die begonnene Auseinandersetzung würde wenigstens teilweise Züge eines Stellungskrieges tragen, wie das im Ersten Weltkrieg der Fall war, wurde durch den Frankreich-Feldzug endgültig widerlegt. Die gestern noch dominierende militärische Macht des Kontinents kapitulierte nach nur einem Monat des aktiven Kampfes. Die Engländer flohen unter starken Verlusten auf ihre Insel. Hitler war Herr in Westeuropa geworden. Es schien so, als ob es keine Macht auf dem Festland gäbe, die seinem Willen trotzen könnte. Großbritannien gab sich zwar ungeschlagen, aber auch sein Schicksal hing an einem seidenen Faden. Die britische Regierung dachte bereits an die Möglichkeit, nach Kanada zu gehen, um von dort aus den Kampf fortzusetzen.
Die sowjetische Regierung verfügte über keine solche Möglichkeit, denn im Fernen Osten lag Japan auf der Lauer. Der kommende Zweikampf mußte im europäischen Teil des Landes geführt – und gewonnen – werden. (Das geschwächte England würde erwartungsgemäß ein Bündnisgenosse Rußlands werden, aber die Perspektive der Eröffnung einer »zweiten Front« im Westen Kontinentaleuropas blieb alles andere als sicher). Auf der ganzen Breite der künftigen deutsch-sowjetischen Front – von der Arktis bis zum Schwarzen Meer – wurden fieberhaft Vorbereitungen zur Abweisung eines kommenden deutschen Angriffs getroffen. Heute werden Versuche unternommen, diese Vorbereitungen als »Aggression« oder »Okkupation« darzustellen. Möge jeder daran denken, was geschehen wäre, wenn die Sowjetunion wie Frankreich einfach zusammengebrochen wäre! Der sowjetische Generalstab hoffte, 1943 bereit zu sein, der Wehrmacht befestigungsmäßig und waffentechnisch gebührend begegnen zu können. Hitler wußte das auch und gab Moskau diese Chance nicht.
Sieg der Anti-Hitler-Koalition
Die Anti-Hitler-Koalition entstand, als die Welt bereits in Flammen des Zweiten Weltkrieges aufging. Spät, aber nicht zu spät. Gott sei Dank! Zuerst England, dann die Vereinigten Staaten, am Ende das Frankreich Charles de Gaulles kamen hinzu. Die Westmächte hatten zuerst die Kriegshandlungen auf Nebenschauplätzen geführt – in Afrika, in Italien, im Stillen Ozean –, wobei der Krieg gegen Japan für die USA von existentieller Bedeutung war. Die Zweite Front wurde, strategisch gesehen, erst im Juni 1944 eröffnet, als die Alliierten ihre Landung in der Normandie realisiert hatten. Jedoch die ganze Zeit nach 1941 fühlte sich die Sowjetunion nicht allein, auch in den schwersten Anfangsjahren des Großen Vaterländischen Krieges nicht.
Im nächsten Jahr werden wir die 65. Wiederkehr des Sieges der Anti-Hitler-Koalition gedenken. Es wäre müßig zu versuchen auszumachen, wem dieser Sieg gehört: Es war ein Sieg für alle, die den Widerstand geleistet hatten. So wird auch die künftige Siegesfeier ein Fest für alle sein. In der heutigen Welt, in der so viele Gefahren – alte und neue – auf die Menschheit lauern, bleibt das große Beispiel der Einheit, das uns die Anti-Hitler-Koalition gegeben hat, ein Leitstern für uns alle. Es wäre traurig zu glauben, daß nur eine allgemeine Katastrophe, ein Weltkrieg, imstande ist, die Menschen zu einen. Wir müssen uns vereinigen, damit eben eine solche Katastrophe niemals Realität würde!
Prof. Dr. Igor Maximytschew arbeitet im Moskauer Europa-Institut. Den vorliegenden Text hielt er als Vortrag während der Konferenz »Zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges« am 22./23. Juni 2009 im Russischen Haus für Wissenschaft und Kultur in Berlin.
Anmerkungen und Quellen