Buchrezension von Seweryna Szmaglewska: Bericht über »Die Frauen von Birkenau«
Seweryna Szmaglewskas Chronik der Unmenschlichkeit im Frauenlager des KZ Auschwitz-Birkenau ist auf deutsch erschienen.
Es ist weniger ein ästhetisches als vielmehr ein ethisches Problem, das den Rezensenten beschäftigt, wenn er sich bei der Lektüre von Seweryna Szmaglewskas Bericht über »Die Frauen von Birkenau« in den Film »Sauls Sohn« (2015) des ungarischen Regisseurs Laszlo Nemes versetzt fühlt: Darf man, was die eine an Leib und Seele erlitten hat, in Beziehung setzen zu etwas, das der andere in Aufnahmen Jahrzehnte später nachgestellt hat? Die Frage drängt sich nicht nur deshalb auf, weil Buch wie Film denselben Stoff behandeln, sondern weil sie auch eine vergleichbare Wirkung erzielen: Beide zwingen die Leserin, den Zuschauer dazu, in die Hetze und den Lärm einzutauchen, denen die Gefangenen des Vernichtungslagers der Nazis ständig ausgesetzt waren.
Szmaglewska wurde Anfang Oktober 1942, mit 26 Jahren, nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Davor hatte sie in Warschau Soziologie studiert, war nach dem deutschen Überfall im September 1939 in ihre Heimatstadt Piotrkow Trybunalski, 50 Kilometer südöstlich von Lodz, zurückgekehrt und hatte sich dem Widerstand gegen die Besatzer angeschlossen. In den 840 Tagen, die sie in Birkenau verbrachte, erkrankte sie zweimal an Typhus. Als das Lager angesichts des Vormarsches der Roten Armee geräumt wurde, sollte sie zusammen mit anderen Häftlingen in das KZ Groß-Rosen überstellt werden. Auf dem Fußmarsch konnte sie fliehen. Im Februar 1945, gleich nach ihrer Ankunft im befreiten Piotrkow, begann sie, das vorliegende Buch zu schreiben. »Da ich wusste, dass meine Kameradinnen sich immer noch in den Transporten nach Groß-Rosen, nach Buchenwald, nach Ravensbrück befanden, zwang ich mir ein Arbeitspensum auf, das in etwa ihrem Marschtag entsprechen musste. Ich stellte den Wecker auf fünf Uhr früh und arbeitete bis zur Abenddämmerung.«
Schon im Dezember 1945 erschien das Buch in Polen unter dem Titel »Der Rauch über Birkenau«. Übersetzungen in zehn Sprachen folgten. Dass es nun endlich, mit 75jähriger Verspätung, auch auf deutsch vorliegt, ist der Publizistin und Übersetzerin Marta Kijowska zu verdanken. Deren kundiges Nachwort weckt den Wunsch, mehr von der Autorin lesen zu können, jedenfalls ihren Bericht über »Die Unschuldigen in Nürnberg« (1972), in dem sie ihre Erfahrungen als Zeugin beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher verarbeitet hat.
Unangenehm berühren am Nachwort nur die Stellen, an denen Kijowska sich gleichsam dafür entschuldigt, dass Szmaglewska »mit den kommunistischen Machthabern« gut ausgekommen und in ihrem literarischen Schaffen den Prämissen des Sozialistischen Realismus gefolgt sei. Noch 2018, 26 Jahre nach dem Tod der Schriftstellerin, kam es zu antikommunistisch motivierten Protesten gegen den Beschluss einer Bürgerinitiative, an der Fassade des Hauses in Piotrkow, in dem sie ihre Jugend verbracht hatte, eine Gedenktafel anzubringen.
»Die Frauen von Birkenau« entzieht sich jeder Gattungsbezeichnung. Es als Bericht zu bezeichnen, ist eine Notlösung. Für eine Reportage ist es zu verbindlich. Und ein Roman im herkömmlichen Sinn ist es schon deshalb nicht, weil die Autorin nichts erfunden hat. Sie hält sich an die Chronologie der Ereignisse, weswegen jeder Abschnitt auch einem Jahr zugeordnet ist, verdichtet in den einzelnen Kapiteln aber ganz bestimmte Erfahrungen: Hunger, Arbeit, Appell, Erschöpfung, Läuseplage, Flecktyphus, Krankenrevier, Strafkommando, Flucht, Denunziation, Selektion, Liquidierung. Und das fieberhafte »Organisieren« natürlich, also Stehlen und Tauschen, das einem rudimentären Kapitalismus unter extremen Bedingungen gleichkommt.
Szmaglewska teilt dies alles in einer beinahe erhabenen Sprache mit, die bilderreich ist und gelegentlich lyrische Züge annimmt. Das historische Präsens verwendet die Autorin, um der Tatsache gerecht zu werden, dass die Gefangenen in der Gegenwart aufgehen mussten – möglichst ohne Erinnerung an die Zeit vor Birkenau und ohne Gedanken an das Danach, wenn sie die nächste Minute, Stunde oder Nacht überleben wollten. Außerdem trägt das Präsens, wie in einer Gebrauchsanweisung, zur Versachlichung bei, was sich bei der topographisch exakten Rekonstruktion des Lagers erweist: Wo genau standen welche Baracken. Wie viele Frauen aus welchen Nationen waren in ihnen einquartiert, für wie lange. Die Toten haben ein Recht darauf, dass die Leser dies alles wissen.
Selten durchbricht die Autorin die auktoriale Erzählsituation. Nur an vier, fünf Stellen deutet ein Personalpronomen darauf hin, dass sie selbst erlitten hat, was sie detailreich schildert. Die bittere Lehre der Lektüre liegt in der Erkenntnis, dass die Überlebenden von Birkenau nicht reicher, sondern ärmer an Erfahrung in die Normalität zurückkehrten. Was sie sich im Lager an Rettungsstrategien angeeignet hatten, half ihnen später nicht weiter. Zum Beispiel, sich eine Schüssel zu beschaffen und diese immer bei sich zu tragen. Bei den Appellen in der Mitte zu stehen, in größerem Abstand zu den Schäferhunden und Holzknüppeln. Gedanken an Solidarität oder Barmherzigkeit, die sie geschwächt hätten, möglichst zu verwerfen. »Es sind keine besonderen Repressalien nötig. Die Bedingungen, unter denen man lebt, rauben einem die Gesundheit, machen das Nervensystem kaputt, führen zu körperlicher und geistiger Entwürdigung. Sie töten. Manchmal entwickelt jemand eine antrainierte, bei den Kriminellen abgeguckte Widerstandsfähigkeit, eine rücksichtslose Fähigkeit, aus dem allgemeinen Elend heil herauszukommen, auf Kosten anderer, auf die eigenen Bedürfnisse bedacht. Frauen, die diesen Weg wählen, schlagen, stehlen, steigen schnell zu Funktionsgefangenen auf.«
Während viele Häftlingsfrauen im Buch Gestalt und Kontur annehmen, bilden die Deutschen – ob SS-Männer, Aufseherinnen oder Funktionshäftlinge – eine kompakte Masse, die »als Ziel ihrer Bemühungen nur den Mord, die Beute, das Blut« sieht. Am besten kommt noch eine Lagerälteste weg, eine der wenigen mit einem roten Winkel, über die Szmaglewska schreibt: »Man hat den Menschen in ihr vor langer Zeit getötet, aber die Bestie nicht geweckt.«