Revolution vor Gericht

GESCHICHTE DER ARBEITERBEWEGUNG  – Vor 150 Jahren begann der Leipziger Hochverratsprozess gegen August Bebel und Wilhelm Liebknecht.

Die große Gefahr aller Länder liege wohl jetzt im Sozialismus, befand General Helmuth von Moltke nach dem deutschen Sieg über Frankreich und der Ausrufung der Pariser Kommune 1871. August Bebel dagegen hatte nicht nur den Krieg abgelehnt, sondern als damals einziger Vertreter der Arbeiterbewegung im neuen Reichstag die Kommune und die Internationale mutig verteidigt. Die Sozialdemokratie wurde dadurch »Gegenstand der heftigsten Angriffe und der niedrigsten Verleumdungen«, wie Bebel später in seinen Erinnerungen schreiben sollte. Die führenden Funktionäre wurden in Ketten gelegt und im »Leipziger Hochverratsprozess«, der am 11. März 1872 eröffnet wurde, zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Das Gerichtsverfahren geriet jedoch zu einer Tribüne des »demokratischen und revolutionären Sozialismus« und trug so zum Aufschwung der Sozialdemokratie bei.

Hurra, Germania!

»Ein neues Zeitalter der europäischen Politik« wollte Otto von Bismarck mit dem Krieg gegen Frankreich einleiten. Den Siegen Preußens in den deutschen »Einigungskriegen« und der Errichtung des deutschen Kaiserreichs sollte die Dominanz über Europa folgen. Um für den unpopulären Krieg Preußens gegen den Deutschen Bund unter Führung Österreichs um die Vorherrschaft in Deutschland 1866 »öffentliche Meinung zu machen«, musste sich der preußische Kanzler aber zunächst »als verdeckter Konzertmeister« der Presse betätigen.¹ Bismarck machte auch Journalisten wie August Heinrich Braß, der 1848 noch seine Fahne mit Tyrannenblut färben wollte, zu gutbezahlten Propagandisten seiner Politik. So besorgte Bismarck die Veröffentlichung der Napoleon III. provozierenden Emser Depesche vom Juli 1870, die der Kanzler so redigiert hatte, dass sie von Frankreich als Kriegsanlass genommen werden konnte, in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und steuerte auch die Propaganda für die Notwendigkeit der Eroberung von Straßburg und Metz.

Die Kriegserklärung durch Frankreich produzierte die erwarteten patriotischen Aufwallungen für eine »Abrechnung bis zum letzten Rest«. Der Griff nach den französischen Erzgruben in Lothringen allerdings musste per orchestrierter Pressepolitik, bezahlt mit erheblichen Mitteln aus Bismarcks »Reptilienfonds«², popularisiert werden.

In der Thronrede des preußischen Königs war von der Verteidigung »unserer Freiheit gegen die Gewalttat fremder Eroberer« die Rede, Deutschland verfolge »kein anderes Ziel, als den Frieden Europas dauernd zu sichern«. Die Staatsbürger-Zeitung aber sah Preußen schon auf dem Weg zur »Weltmacht«: »Das weite Weltmeer muss die Losung Preußens sein. Denn nur wer das Meer beherrscht, beherrscht die Welt.«

»Hurra, du stolzes, schönes Weib, Hurra Germania!« jubelte Ferdinand Freiligrath, früherer Mitarbeiter der Neuen Rheinischen Zeitung. Auch die entstehende Sozialdemokratie geriet in den Sog des nationalen Taumels. »Jeder Deutsche (…) ist ein Verräter, der jetzt nicht zu seinem Volke steht«, verkündete der (lassalleanische) Social-Demokrat am 20. Juli 1870, und entsprechend stimmten die drei lassalleanischen Abgeordneten im Norddeutschen Reichstag für die Kriegsanleihe.

Da im Hintergrund der Konflikt schwelte, ob in Spanien ein Prinz aus einer Nebenlinie der Hohenzollern König werden sollte, worin Frankreich den Versuch einer Einkreisung vermutete, sah Bebel einen dynastischen Krieg um die Vorherrschaft in Europa. Entsprechend formulierte er seinen und Wilhelm Liebknechts Standpunkt im Reichstag zur Abstimmung über die Mittel der Kriegführung. Preußen habe den Krieg seit 1866 vorbereitet, aber auch Bonaparte führe einen Krieg um die Vorherrschaft, daher könnten sie »als Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft«, sich »weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung«.³ Erst zwei Jahre später konnten Bebel und Liebknecht nachweisen, dass »Bismarck den Krieg von langer Hand vorbereitet«, durch die Emser Depesche provoziert und das Volk »betrogen und hintergangen« hat.⁴

Der Parteiausschuss der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in Braunschweig unterstützte hingegen den deutschen »Verteidigungskrieg«. Man hoffe, »dass unsere Brüder mit Begeisterung und Mut uns bald zum Siege in Frankreich führen« und »das französische Volk dann freier aufatmen könne.«⁵ Liebknecht warf dem eigenen Parteivorstand daraufhin »patriotischen Dusel« vor. Karl Marx und Friedrich Engels, die um Rat gefragt wurden, stimmten Liebknecht allerdings nicht ganz zu; in einer Situation, in der es »um die nationale Existenz« gehe, könne man nicht »totale Abstention« predigen, schrieb Engels am 15. August 1870 an Marx. Gleichzeitig betonte Marx in der »Ersten Adresse des Generalrats zum Deutsch-Französischen Krieg«, die Liebknecht bereits am 7. August veröffentlicht hatte, dass Bismarck Deutschland durch seine Politik in den Zwang gebracht habe, sich verteidigen zu müssen. Dieser Position schloss sich die SDAP an. »Letztmals«, schrieb Franz Mehring später, »drohte ein Konflikt in der nationalen Frage die deutsche Arbeiterklasse zu zerreißen.« Das sollte sich 1914 als Irrtum erweisen.

Bebel bewirkte schließlich, dass ein öffentlicher Zwist vermieden wurde. Die gemeinsam abgelehnten Eroberungspläne führten die Fraktionen schließlich zusammen. Die Partei rief im September zu Kundgebungen gegen die Annexion von Elsass-Lothringen auf und forderte einen »billigen«, also fairen Frieden mit der Französischen Republik. Daraufhin ließ der norddeutsche Generalgouverneur Eduard Vogel von Falckenstein am 9. September die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses in Ketten legen und in die Festungshaft transportieren, zudem verbot er die Parteizeitung Volksstaat ebenso wie die öffentliche Diskussion der Annexionspläne. Am 17. Dezember wurden neben Bebel auch die Volksstaat-Redakteure Liebknecht und Adolf Hepner wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« verhaftet.

Unter dem Eindruck des siegreichen Krieges fanden am 3. März die ersten Wahlen zum jetzt deutschen Reichstag statt, bei denen sich nur noch Bebel durchsetzen konnte. Am 17. März zog Wilhelm I. als siegreicher Kaiser durch das Brandenburger Tor, und am 18. März erhob sich die Pariser Arbeiterklasse zur »Kommune«.

Die Kommune im Reichstag

In der deutschen Linken wurde die Errichtung der Kommune begeistert aufgenommen. Doch im nationalliberalen und konservativen Bürgertum ging die Kriegshetze gegen Frankreich unmittelbar in die Hetze gegen die Kommune über. Im Juni schrieb die Spenersche Zeitung in Berlin, »die Kommunisten von 1871 sind die gemeinsten Ungeheuer, die es jemals in der Welt gegeben hat«. Die »rote Bande« bestünde aus »Brandstiftern und Mördern, gleichwie sie Räuber, Diebe, Schlemmer und Wollüstige waren«. Zwischen Kommune und Kommunisten wurde selten unterschieden. Die französische Regierung in Versailles beschuldigte die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) mit Marx als »grand chef de l’Internationale«, »welche ihre Agenten in der ganzen Welt hat«, den Aufstand angezettelt zu haben.

Nach einer zeitweiligen Freilassung am 28. März 1871 konnte Bebel am 3. April erstmals an einer Sitzung des Reichstags teilnehmen. Unter dem Hohngelächter auch der Liberalen plädierte er für die Aufnahme von Grundrechten in die neue Verfassung. Und als die Nachrichten von der blutigen Niederschlagung der Kommune Berlin erreichten, protestierte Bebel am 25. Mai nicht nur gegen die Annexion Elsass-Lothingens, sondern solidarisierte sich offen mit den angeblichen »Brandstiftern und Mördern«. Das ganze europäische Proletariat sehe nach Paris, bald werde der Schlachtruf »Krieg den Palästen, Friede den Hütten« vom ganzen europäischen Proletariat aufgenommen. Der Reichstag lachte, Bismarck bemerkte abschätzig, alle würden das Gefühl teilen, dass die Rede keiner Antwort bedürfe.⁶

Tatsächlich regte der nunmehrige Reichskanzler umgehend internationale Maßnahmen zur Bekämpfung der »sozialistischen Organisationen« an. Er erstellte ein Konzept für »Öffentlichkeitsarbeit« in den Zeitungen und trat mit seiner »Reptilienpresse« eine öffentliche Kampagne los, mit der die kommenden Sozialistenverfolgungen vorbereitet wurden. Das »Kanzlerblatt« Norddeutsche Allgemeine Zeitung verlangte in diesem Sinn, der Reichstag müsse »die ganze Gewalt seiner Autorität« gegen »die vermessenen Kundgebungen des Sozialismus« einsetzen. Bismarck ließ seine Regierung fordern, neue Bestimmungen vorzulegen, um »der Gesellschaft den nötigen Schutz gegen solche Bedrohung durch Fanatiker zu gewähren«.⁷ Die Kampagne wirkte. Am 8. November betonte der Führer der Nationalliberalen im Reichstag, Nacheiferer der Kommune werde das Bürgertum nicht dulden, sondern »mit Knüppeln sie totschlagen«. Sehr viel später, am 17. September 1878, bekannte Bismarck bei den Beratungen des Sozialistengesetzes im Reichstag offen, erst durch die Rede Bebels habe er »in den sozialdemokratischen Elementen einen Feind erkannt, gegen den der Staat, die Gesellschaft sich im Stande der Notwehr befindet«.

Die Frage der Gewalt

Bismarck drang bei den sächsischen Behörden auf einen Prozess gegen Bebel und Liebknecht. Die Anklage stützte sich vor allem auf die Korrespondenz des Parteivorstands (»Braunschweiger Ausschuss«), die der Polizei im September 1870 bei der Verhaftung des Vorstands in die Hände gefallen war. Bebel und Liebknecht waren über den Leichtsinn der Braunschweiger sehr erbost, da teilweise peinliche Interna etwa über den laschen Umgang von einzelnen Funktionären mit Parteigeldern an die Öffentlichkeit gelangten und von Gegnern ausgeschlachtet wurden.

Während allerdings der Prozess gegen den »Ausschuss« im November 1871 in der Revision mit einer erheblich reduzierten Verurteilung nicht wegen Hochverrats, sondern nur wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz endete, sollte gegen Bebel und Liebknecht ein Exempel statuiert werden. Das Anklagematerial bildeten neben Briefen Reden, Parteitagsberichte, Rechenschaftsberichte, Zeitungsartikel und gefundene Broschüren, selbst wenn sie mit der Sozialdemokratie nichts zu tun hatten.

Als Hochverrat galt nach Paragraph 81 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 der Versuch, die Verfassung des Deutschen Reiches oder eines Bundesstaates gewaltsam zu ändern. Staatsanwaltschaft und Gericht suchten daher das Material nach den Worten Revolution oder revolutionär ab und stützten sich schließlich auf einen Privatbrief des (freigesprochenen) Ausschussmitglieds Bracke, der formuliert hatte, dass man wenige Hoffnung haben könne, dass die sozialistische Gesellschaft auf friedlichem Wege eingeführt werden könne, deshalb »die Vorbereitung auf die Gewalt«.⁸

Liebknecht, der für die Angeklagten das Wort führte, verwies darauf, dass Revolution etwa in der ökonomischen Entwicklung und gewaltsame Putsche verschiedene Dinge seien. Wenn die besitzenden Klassen den berechtigten Forderungen nachgeben wie in England, »wird unser Programm im heutigen Staat verwirklicht«. Versperre fanatischer Klassenhass dem Proletariat den Weg der Reform, sehe man eine Reihenfolge der blutigsten Klassenkämpfe. »Unsere Absicht ist es nicht, den gewaltsamen Kampf herbeizuführen.«

Anknüpfend an einen Aufsatz Liebknechts über die Erschießung Robert Blums fragte der Richter, ob er bereit sei, für die Republik in den Kampf zu gehen. Dies bejahte Liebknecht für den Fall, dass gegen einen Beschluss des Parlaments zur Einführung der Republik Gewalt ausgeübt würde – und dies war natürlich für das Gericht gleichzusetzen mit »Revolution«, da dies gegen die Fürsten als Teil der »Verfassung« gerichtet sei. Unter dem Jubel des Publikums betonte darauf Liebknecht, dass er dann die Fürsten als Rebellen ansehen und behandeln würde.

Eine zentrale Rolle spielte im Prozess ein Auftritt Bebels am 27. April 1870 bei einer großen Wahlkampfdiskussion in Plauen mit dem liberalen Abgeordneten Hirsch. Ein als Belastungszeuge geladener Polizeibeamter verneinte zwar, dass Bebel zur Gewalt aufgefordert habe, betonte aber, »der Eindruck der Rede war entschieden der, dass Bebel zur Gewalt aufforderte, zur Revolution, sobald nur die Verhältnisse dazu angetan seien«. Ähnlich äußerte sich ein Oberlehrer, der einen Bericht für die Lokalzeitung verfasst hatte. Bebel habe mit Geschick die direkte Aufforderung zur Gewalt vermieden. Obwohl keiner der Belastungszeugen eine Aufforderung zur Gewalt bestätigen konnte und zwei Entlastungszeugen den Gewaltaufruf verneinten, wurden die Unterstellungen im Schlussplädoyer erneut als Tatsachen dargestellt. Ein »Gesamteindruck« vom Wirken der Angeklagten sollte ihre Schuld beweisen. Die Verteidigung wollte dagegen in der Fragestellung an die Geschworenen die revolutionäre Gewalt auf die konkrete Planung eines »gewaltsamen Angriffes zur Einführung der Republik« eingegrenzt sehen – vergeblich.

Der Prozess als Tribüne

Der Prozess geriet zum öffentlichen Großereignis, nicht nur wegen des Zuschauerandrangs, sondern weil alle wichtigen Zeitungen, auch des Auslands, darüber berichteten und ganz Deutschland, wie Liebknecht süffisant bemerkte, zum Publikum der Sozialisten wurde. Liebknecht und Bebel erhielten die Gelegenheit, nach dem Verlesen der Dokumente ihre Standpunkte ausführlich zu erläutern, die Geschichte der internationalen wie nationalen Bewegung und auch die Differenzen darzustellen. »Herr Liebknecht, Sie sprechen zuviel«, kritisierte der Gerichtspräsident Ritter von Mücke dessen auf 20 Seiten ausgebreiteten Erläuterungen zu Programm und Aufbau der IAA. Doch auch Bebel wurde erlaubt, fast eine Stunde lang seine inkriminierte Plauener Rede zu wiederholen, bis der Präsident angesichts der Anklagen gegen brutalen und despotischen »Zäsarismus« diesseits des Rheins glaubte, zur Mäßigung auffordern zu müssen. Liebknecht verwies darauf, dass das Strafgesetz nur den misslungenen Hochverrat bestrafe. »Der glückliche Hochverrath sitzt auf Thronen, auf Ministersesseln, auf Richterbänken. Aus Hochverrath ist der Norddeutsche Bund, jetzt Deutsches Kaiserreich hervorgegangen.«⁸ Die Angeklagten traten also sehr offensiv auf, nutzten den Prozess als Tribüne der Propaganda, weshalb auch Engels am 23. April 1872 lobte: »Wegen Eures Auftretens vor Gericht machen wir Euch alle unser Kompliment. Es war nötig nach dem Braunschweiger Prozess, dass dem Pack einmal die Stirn geboten wurde, und das habt Ihr redlich getan.«

Besondere Aufmerksamkeit des Staatsanwalts fand die Verbindungen zur Internationale, zu der sich Bebel und Liebknecht bekannten. Die Anklage versuchte nicht nur eine (nach den Vereinsgesetzen verbotene) Mitgliedschaft der SDAP in der IAA nachzuweisen, die ja nicht nur als Drahtzieherin der Kommune, sondern nahezu aller republikanisch-sozialistischen Bewegungen galt, sondern auch eine »Oberleitung« der Partei durch die IAA, ausgehend von Marx als »Seele des Generalrats«. Liebknecht betonte, dass die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands prinzipiell zur IAA gehöre, nicht jedoch formal oder offiziell – und auch keine inhaltliche Unterordnung bestehe: »Das Autoritätsprinzip ist aus der Internationalen Arbeiterassoziation vollständig ausgerottet.«

Der übereifrige Richter ließ unter dem Beifall sozialdemokratischer Zuhörer wichtige Dokumente der Bewegung im Gerichtssaal verlesen, darunter die zentralen Dokumente der Internationale. Das breite Publikum wurde durch die intensive Berichterstattung trotz aller Häme mit den Positionen der »Kommunisten«, wie sich Bebel und Liebknecht auch nannten, konfrontiert. Und die Sozialdemokratie veröffentlichte täglich »Extrablätter« mit stenographischen Berichten aus den Verhandlungen, die dann zur Grundlage der von Liebknecht herausgegebenen Protokolle wurden. Zudem durften die Schriften in Prozessprotokollen legal veröffentlicht und »als fast komplettes Arsenal der sozialistischen Literatur« einer breiten Öffentlichkeit bekanntgemacht werden.

Verurteilt wurden Bebel und Liebknecht von den Geschworenen (meist Gutsbesitzer und Kaufleute) mit acht gegen vier Stimmen wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«, also der öffentlichen Aufforderung zur gewaltsamen Änderung der Verfassung des Norddeutschen Bundes oder eines Bundesstaats. Da aber »die Vorbereitungshandlungen noch entfernt gewesen seien«, lautete das Urteil auf zwei Jahre Festungshaft. Hepner wurde freigesprochen. Da ein tatsächlicher Versuch zur gewaltsamen Veränderung nicht vorlag, »ein bestimmtes Unternehmen«, wie es das Strafgesetz verlangte, nicht stattgefunden hatte, so musste, wie der Gerichtspräsident die Geschworenen instruierte, die Absicht als »innerer Vorgang innerhalb der menschlichen Seele«, der »verschwiegene Wille«, be- und verurteilt werden.

Die Richter im Braunschweiger Hochverratsprozess hatten die Angeklagten noch freigesprochen, weil sie nicht befugt sahen, »den wesentlichen Unterschied zwischen illoyaler Gesinnung und gesetzwidriger Handlung zu übersehen«. Das Leipziger Urteil begründete dagegen die Tradition einer politischen Gesinnungsjustiz, die, so der linke Verfassungsrechtler Wolfgang Abendroth, mit der Ausweitung des Hochverratsparagraphen auf praktisch alle Ansätze zur grundlegenden Veränderung einer Staat- oder Gesellschaftsverfassung eine unheilvolle Rechtstradition begründet habe, »die bis zum heutigen Tag Deutsches Reich und Bundesrepublik Deutschland (…) von allen Staaten unterscheidet, die bürgerlich-rechtsstaatliches Denken wirklich ernst nehmen«.⁹

Studienjahre im Gefängnis

Nach Verwerfung der Revision mussten die zwei Sozialisten am 1. Juli ihre Haft im als Gefängnis und Pflegeanstalt genutzten Schloss Hubertusburg antreten. Am Endbahnhof salutierten die Schaffner und der Lokomotivführer und viele Passagiere schwenkten Hüte und Mützen. Der Prozess hatte die beiden zu populären Personen gemacht.

Kaum angekommen, brach Bebel erschöpft zusammen. »Aber absolute Ruhe und frische Luft brachten mich allmählich wieder auf die Füße.« Festungshaft hatte immerhin den Vorteil, dass sich die Häftlinge auf eigene Kosten von einem Gasthaus verpflegen lassen, lesen und schreiben und bald auch kurze Zeit zusammenkommen durften. Während Liebknecht viel schrieb, beschloss der Handwerker Bebel die 31 Monate Haft zur Weiterbildung zu nutzen, er konnte sich Zeit nehmen für eine gründliche Lektüre von Marx’ Schriften, etwa dem 1867 erschienenen »Kapital«. Die Lektüre der französischen Frühsozialisten regte seine Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Stellung der Frauen an, aus der schließlich sein Bestseller »Die Frau und der Sozialismus« entstand.

Erst am 1. April 1875, dem 60. Geburtstag seines Gegenspielers Bismarck, wurde er entlassen, inzwischen »geliebt von seinen Parteigenossen, gefürchtet und geachtet von seinen Gegnern«, wie die liberale Frankfurter Zeitung bei dieser Gelegenheit schrieb. Trotz der Verfolgungen, die zunehmend ausgeweitet wurden, konnten die beiden sozialdemokratischen Parteien bei den nächsten Reichstagswahlen 1874 ihre Stimmen fast verdreifachen und neun Abgeordnete in den Reichstag entsenden.

Anmerkungen

1 Heinrich Wuttke: Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Hamburg 1866, S. 103

2 »Reptilienpresse« nannte man die in großem Umfang mit Geheimmitteln durch Bismarck gelenkten und finanzierten Presseorgane. Die Millionenbeträge stammten aus dem beschlagnahmten Vermögen der Welfen, der Könige von Hannover, dem sogenannten Reptilienfonds.

3 August Bebel: Aus meinem Leben. Zweiter Teil. Stuttgart 1911, S. 179

4 Wilhelm Liebknecht: Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden. Nürnberg 1893, S. 5

5 Zit. nach Bebel, a. a. O., S. 184

6 Ursula E. Koch: Berliner Presse und europäisches Geschehen 1871. Berlin 1978, S. 275

7 Ebd., S. 279

8 Zitate ohne Angaben beziehen sich auf das Protokoll des Prozesses: Wilhelm Liebknecht (Hrsg.): Der Hochverrats-Prozeß wider Liebknecht, Bebel, Hepner vor dem Schwurgericht zu Leipzig vom 11. bis 26. März 1872. Berlin 1911. Ein gekürzter Nachdruck erschien 1960 in der DDR.

9 Wolfgang Abendroth: August Bebels Kampf gegen Militarismus und Krieg. In: Abendroth: August Bebel und die Sozialdemokratie. Köln 1974, S. 33

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