Reform & Revolution

Ist eine Reform des Kapitalismus ohne Revolution möglich?

Weil Rosa Luxemburg den Kapitalismus ohne Revolution nicht für reformierbar hielt, ist sie zu Recht bis heute als Revolutionärin verschrien. Eduard Bernstein, ihr Gegenspieler in der Sozial demokratischen Partei, hatte in seinem Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« (1899) eine nichtrevolutionäre Überwindung des Profitprinzips auf friedlichem, reformerischem Wege vorgeschlagen. Diese Abwendung von der marxschen Annahme, eine Revolution sei unvermeidbar, solle die Menschheit nicht in Barbarei zurückfallen, hat Rosa Luxemburg scharf zurückgewiesen. Stattdessen plädierte sie für eine reformerische Tagespolitik, die sich an den Erfordernissen einer revolutionären Perspektive ausrichten sollte.

Rosa Luxemburg war am 5. März 1871 als Rozalia Luxenburg in Zamosc (Polen) geboren. Sie wurde am 15. Januar 1919 in Berlin ermordet. Als Mörder von Rosa Luxemburg galt jahrzehntelang Kurt Vogel, mittlerweile gilt jedoch die Täterschaft von Hermann Souchon als erwiesen. Beide Offiziere waren allerdings unmittelbar tatbeteiligt. Sie gehörte der Sozialdemokratischen Parteien Polens, Litauens und Deutschland an. Ihre Ermordung, das bestätigen viel später die Geständnisse, lief wie folgt ab: Als Rosa Luxemburg durch den Haupteingang fortgeführt wurde, stand derselbe Runge an der Tür. Hauptmann Petri hatte Befehl gegeben, man solle dafür sorgen, dass die Luxemburg nicht lebendig ins Gefängnis komme (Denkschrift des Vollzugsrates). Als Frau Luxemburg durch die Türe kam, schlug Runge ihr zweimal auf den Kopf, so dass sie umsank. Der den Transport führende

Oberleutnant Vogel hatte nichts dagegen getan. Man schob Frau Luxemburg in den Wagen. Als der Wagen abfuhr, sprang ein Mann hinten auf und schlug sie mit einem harten Gegenstand auf den Kopf. Unterwegs schoss Oberleutnant Vogel der Frau Luxemburg noch eine Kugel durch den Kopf. Man fuhr zwischen Landwehrkanal und Zoologischen Garten entlang. Am Landwehrkanal stand eine Gruppe Soldaten. Das Auto hielt, die Soldaten warfen die Leiche auf Befehl Vogels in den Kanal. Die am Mord Beteiligten ließen sich am Tage danach bei einem Gelage fotografieren.

Rosa Luxemburg trat im Alter von 16 Jahren dem sozialistischen Untergrund in Polen bei. Nach der Verhaftung und Exekution der Anführer*innen floh sie nach Zürich (Schweiz). Sie war ein aufstrebender Stern in der internationalen sozialistischen Bewegung. Als sie 1898 im Alter von 27 Jahren für den politischen Kampf nach Berlin zog, bestimmte dieser ihr restliches Leben. Bedenken wir, ein neues Jahrhundert beginnt und die Arbeiter*innen haben eine sozialistische Massenpartei geschaffen. An ihrer Spitze stehen Marxist*innen, die theoretisch eine Revolution wollen,  und das in einem völlig undemokratischen Staat. Was sollen sie also tun? Auf den langen, parlamentarischen Weg zum Sozialismus setzen? Oder auf etwas anderes, das zunächst sehr fern erscheint: „Eine Revolution?“

Eduard Bernstein, einer der führenden Vordenker der Partei SPD sagte, vergesst die Revolution. Die Arbeiterklasse will sie nicht. Und sie könnte sie ohnehin nicht erreichen. Weil sie zu zersplittert ist durch Qualifikationen und Hierarchien. Legen wir den Fokus lieber auf den steten Tropfen von Reformen, wie den 8-Stunden-Tag, die Demokratisierung der Armee oder die Arbeiterbildung. Rosa Luxemburg griff Bernstein schonungslos an. Zwischen Sozialismus und Kapitalismus errichtet der Staat eine immer höhere Mauer. Nur der Hammerschlag der Revolution kann diese Mauer zertrümmern. Wenn Rosa Luxemburg über Revolution schreibt, ist das für sie ein sehr weitreichendes Konzept. Und eines, das sehr viele Aspekte des Lebens umfasst. Es ist der Versuch, über eine Welt nachzudenken, die es noch nicht gibt, in der sich Menschen als gleichwertig begreifen können, in der es keine Unterdrückung gibt, wo wir von null anfangen können. Eine Idee, die zwischenmenschliche Beziehungen umfasst, das Geschlecht umfasst, der Rassismus umfasst, die alle umfasst. Es ist wirklich die Forderung nach einer Welt, die noch nicht hier ist.

In Deutschland war die Reform oder Revolution-Debatte noch reine Theorie. Im Russischen Reich hingegen, das direkt hinter der polnischen Grenze begann, wurde Theorie zur Praxis. 1905 organisierten die Arbeiter*innen in ganz Russland einen Generalstreik. Sie schufen gewählte Räte, die Sowjets, und begannen, wovon Rosa Luxemburg geträumt hatte, die Revolution. Luxemburg reiste nun in Deutschland umher, auf der Suche nach Unterstützung für die streikenden im Russischen Reich. Im Dezember 1905 machte sie einen entscheidenden Schritt. Sie zog nach Warschau, um sich der Revolution anzuschließen. Sie änderte ihren Namen und nannte sich von da an Anna Matschke, Journalistin. In Warschau galt das Kriegsrecht. Es gab Unruhen, Pogrome und Bombenanschläge. Die Polizei suchte überall nach linken Aktivist*innen. Rosa, wurde zusammen mit ihrem Partner, Leo Jogiches, verhaftet. Er wurde zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sie wurde nach fünf Monaten freigelassen und ging nach Finnland, erneut unter falschem Namen. Sie hieß von nun an Felicia Budilowidsc, Journalistin.

In Finnland traf Luxemburg Lenin und die Anführer*innen der mehr als einjährigen Massenstreiks in Russland. Sie debattierten über Taktiken und Lehren aus der Revolution von 1905. Sie schrieb ein Pamphlet, dass die gemäßigten Führungsköpfe des europäischen Sozialismus bis ins Mark erschüttern sollten: „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften.“ Die führenden Reformkräfte hielten Revolutionen in Westeuropa für verfrüht, weil die Arbeiterschaft nicht gebildet genug sei für die Machtübernahme. Bildung müsse langsam erfolgen, in Abendschulen und mittels Wahlkampagnen. Revolutionär*innen wie Lenin sagten, dass eine kleine Untergrundpartei von Intellektuellen das lösen könnte, indem sie die Revolution mit Untergrundzeitungen und einer disziplinierten Organisation vorbereiteten. Luxemburg sagte, dass der Massenstreik die Brücke sei zwischen Reform und Revolution. In Massenstreiks lernten Arbeiter gesellschaftliche Organisierung und wie sie die nötigen Organisationen improvisieren können. Das könne niemand planen. Dann sei es die Rolle der Partei, den Aufstand zum Sieg zu führen. In den Massenstreiks in Russland spielte Spontanität eine zentrale Rolle. Nicht weil die russische Arbeiterschaft ungebildet war, sondern weil Revolutionen es niemanden erlauben, sich zu ihrem Schulmeister aufzuschwingen. Der Massenstreik ist die erste natürliche, impulsive Form eines jeden großen revolutionären Kampfes des Proletariats, und je zugespitzter der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist, desto effizienter und wirkungsvoller müssen Massenstreiks sein.

Für Rosa Luxemburg war der Massenstreik ein zentrales Konzept, von Beginn ihres Arbeitslebens bis praktisch zu ihrem Tode. Sie erkannte die Bedeutung, die Menschen im Kampf selbst zu bilden, im Hier und jetzt, mittels politischer Prozesse. Sie erkannte, das politische sowie ökonomische Streiks, und sie schrieb viel über den Unterschied, Wege sind, um kollektiv Bewusstsein auszubilden und das Potenzial über einen revolutionären Wandel zu sehen.

Die Parteiführung war entsetzt. Die deutsche Regierung warf Luxemburg ins Gefängnis dafür, »Unruhen anzustiften«. Aber ihre Ideen waren ansteckend. Vor 1905 schien die Idee einer Revolution in einem entwickelten Land sehr fern. Jetzt positionierte Rosa Luxemburg mitten in die Debatte die Idee der spontanen Aktion. Eine Revolution, die weder jahrelang in der Abendschule vorbereitet wurde noch durch einen kleinen konspirativen Kreis, sondern den Erfahrungen der Arbeiterschaft selbst entsprang. Sozialismus verstand sie als Einheit von politischen und sozialen Freiheiten. Bis heute ist sie deshalb eine Identifikationsfigur, ihre Schriften besitzen eine ungebrochene Aktualität. Luxemburgs vielgestaltiges Leben reichte von der Entstehung des Deutschen Kaiserreiches bis kurz nach dessen Ende (1871–1919). Auch wenn sie im Zuge der Revolution von 1918/19 einen gewaltsamen Tod fand und in der Folge viel getan wurde, ihr Andenken zu schmälern, bleiben ihre Werke bis heute eine Inspiration für all diejenigen, die versuchen, eine neue, bessere und gerechtere Welt zu schaffen.

Für die Lösung der heute anstehenden Probleme ist Luxemburgs Buch »Sozialreform oder Revolution«? (1899) immer noch bedeutend. Darin umging sie die Falle, in die eine Gegenübersetzung von Reform und Revolution zwangsläufig führt. Genau an dieser Diskussion jedoch sollte – schon vor ihrer Ermordung – die sozialistische Arbeiterbewegung sich spalten: in eine Richtung, die mit reformerischen Methoden die Dominanz der Profitinteressen zu überwinden suchte, und in eine, die mit revolutionären Methoden das gleiche Ziel anstrebte. Durch die Aufspaltung der kapitalismuskritischen Kräfte in zwei Hauptströme und viele kleine Mündungsrinnsale entstand ein riesiges »sozialistisches Delta«. Das freie Meer des Sozialismus erreichte keines dieser Flüsse, weder der der die Revolution postulierenden Kommunisten noch der der Erben Eduard Bernsteins. Dieses Scheitern der sozialistischen Politik öffnete Raum für den Faschismus und in den 1970er-Jahren für den Neoliberalismus, der Wirtschaft und Gesellschaft dieser Welt bis heute prägt.

Rosa Luxemburg hoffte, mit einem Zusammenspiel aus Reform und Revolution eine erneuerte Wirtschaft einführen zu können, wobei Revolution für sie nicht gleichbedeutend mit der Anwendung von Gewalt war:

»In den bürgerlichen Revolutionen waren Blutvergießen, Terror, politischer Mord die unentbehrliche Waffe in der Hand der aufsteigenden Klassen. – Die proletarische Revolution Bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte«. [1]

Revolutionäre Gewalt war für Rosa Luxemburg allenfalls als Gegengewalt akzeptabel – dann, wenn die Herrschenden Prinzipien des Rechtes brachen und ihrerseits zur Gewalt griffen. Terror hingegen lehnte Luxemburg ab, den individuellen Terror ohnehin, da er stets nur noch mehr staatliche Unterdrückung legitimierte. Stattdessen stimmte sie mit der frühen westeuropäischen sozialistischen Bewegung überein, die in einer Verbindung aus politischer Schulung, Organisation und Kampf der Massen die Methoden gesehen hatte, die Gesellschaft vom Profitprinzip zu befreien:

»Nicht die Anwendung der physischen Gewalt, wohl aber die revolutionäre Entschlossenheit der Massen, in ihrer Streikaktion nötigenfalls vor den äußersten Konsequenzen der Kampfsituation nicht zurückzuschrecken und alle Opfer zu bringen, verleiht dieser Aktion an sich eine so unwiderstehliche Gewalt, dass sie häufig den Kampf in kurzer Frist zu namhaften Siegen zu führen vermag.«[2]

Revolutionen erwuchsen für Rosa Luxemburg aus dem Klassenkampf. Marx’ 1848 geäußerte – von Friedrich Engels 1895 schon zumindest halb wieder aufgegebene – Erwartung, eine Revolution werde umstandslos das Tor zum Sozialismus aufstoßen, teilte Rosa Luxemburg spätestens nach der niedergeschlagenen russischen Revolution von 1905/06 nicht mehr. Sie begriff: Jede Revolution erleidet nach dem unvermeidlichen Erlahmen der sie treibenden Kräfte einen Rückschlag. Der falle allerdings umso geringer aus, je weiter die Revolution nach links getrieben werde bis hin zu einer – zeitweiligen, weil nicht dauerhaft lebensfähigen – Diktatur des Proletariats. Das ist der zentrale Punkt in Rosa Luxemburgs Revolutionsverständnis.

Revolutionen verstand Rosa Luxemburg von nun an als langfristige, immer wieder unterbrochene Prozesse, als Zyklen und nicht mehr als Einzelereignisse. Ein sozialistischer Umsturz sei nicht »innerhalb von 24 Stunden zu bewältigen«, sondern präge einen langen geschichtlichen Abschnitt.

Vor dem Hintergrund heutiger Protestbewegungen, nicht zuletzt der Klimaproteste, gewinnen Rosa Luxemburgs Überlegungen zum Zusammenspiel von Reform und Revolution an Aktualität. Weltweite Bewegungen wie »Fridays for Future« zeigen, dass sie einen Druck aufzubauen vermögen, der das politische System zu Veränderungen zwingt.

Fußnoten

Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund? [Dezember 1918], in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 443.

Rosa Luxemburg: Das belgische Experiment, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973, S. 204.

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