Potsdam feierte Phantasiestaat

Schon 2008 flaggte Potsdam vor dem Stadthaus im Sinne der tibetischen Separatisten die Phantasiefahne einer »Exilregierung Tibets«, von einem Land, dass es gar nicht gibt.

Potsdam, die Hauptstadt Brandenburgs, liegt südwestlich von Berlin und leidet oft ein wenig darunter, neben dem Glanz der Bundeshauptstadt zu verblassen. Zu Unrecht, verfügt Potsdam doch über ein einzigartiges Flair, über prächtige Schloss- und Parkanlagen, Sanssouci und Schloss Cecilienhof. Und doch: Die mangelnde Wahrnehmung nagt an den politisch Verantwortlichen. Kümmert sich die Welt nicht um Potsdam, dann eben andersherum, könnte sich die städtische Beigeordnete für Bildung, Kultur und Sport, Iris Jana Magdowski, gedacht haben, als sie am 10. März den Befehl zur Beflaggung erteilte. Seitdem weht die »tibetische Fahne« vor dem  Stadthaus. Die Landeshauptstadt »beteiligt sich damit an der bundesweiten Kampagne ›Flagge zeigen für Tibet!‹ der Tibet Initiative Deutschland e.V.«, teilte sie am Dienstag mit. Tibet sei »seit 1949/50 von China besetzt«, weiß Magdowski. »Die tiefe Religiosität der Tibeter ist beeindruckend«, teilte das Büro des Potsdamer Oberbürgermeisters Jann Jakobs (SPD) am 10. März mit.

Die Fahne, die nun in Potsdam flattert, ist die Phantasiefahne einer »Exilregierung Tibets«, die unter der Ägide des Dalai Lama in Indien residiert. Diese »Exilregierung« ist von keinem Land der Welt, auch nicht von der UNO, anerkannt. Nach seiner Flucht aus China im Jahr 1959 hat sich das religiöse Oberhaupt der buddhistischen »Gelbmützen«, der 14. Dalai Lama, ins Exil abgesetzt. Von dort aus fordert er wahlweise »vollständige Autonomie« oder »Unabhängigkeit« Tibets, inklusive ethnischer Säuberung von allen Nicht-Tibetern. Die Autonome Region Tibet, eine chinesische Provinz, reicht ihm dabei nicht aus – sein eingefordertes »Groß-Tibet« würde rund ein Viertel des gesamten chinesischen Territoriums umfassen.

Die Entscheidung, sich an der fragwürdigen Aktion zu beteiligen, sei durch einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung 2007 getroffen worden, teilte eine Sprecherin der Landeshauptstadt Potsdam mit. In diesem Beschluss ist von der »Nationalflagge des autonomen Gebietes Tibet« die Rede. Die chinesische Provinz ist keine Nation, verfügt deshalb auch über keine solche Fahne. Die Unterstützung separatistischer Aktivitäten durch die Stadt Potsdam steht obendrein im Widerspruch zum Kurs der Bundesregierung, die die »Exilregierung« des Dalai Lama nicht anerkennt.

Der Botschafter der Volksrepublik China in der BRD, Shi Mingde, teilte der Bundesregierung  mit: »Wir sind entschlossen dagegen und sehr unzufrieden, dass die Landeshauptstadt Potsdam sich an der Kampagne beteiligt.« Die deutsche Regierung verfolge »stets eine Ein-China-Politik und erkennt an, dass Tibet ein Bestandteil des chinesischen Territoriums ist«. Die sogenannte tibetische »Exilregierung« sei »rundum unrechtmäßig. Wir sind entschlossen dagegen, dass damit die Souveränität und territoriale Integrität Chinas verletzt« wird, so Botschafter Shi.

»Potsdam ist ein beliebtes Ziel für die chinesischen Touristen. Die Beteiligung an der ›Flaggenaktion‹ schadet sicher dem Image der Stadt und beeinträchtigt ihren freundschaftlichen Austausch und ihre Kooperation mit China«, befürchtet er. »Wir hoffen darauf, dass die Landeshauptstadt Potsdam an dem korrekten Standpunkt der deutschen Bundesregierung in dieser Frage festhalten kann, also nicht eine ›Unabhängigkeit Tibets‹ unterstützt und nicht an der ›Flaggenaktion‹ teilnimmt«, appelliert Botschafter Shi.

Der Umstand, daß der Dalai Lama als oberster Repräsentant einem brutalen und ausbeuterischen theokratischen Unterdrückersysteme vorstand, bleibt dabei, wie üblich, unerwähnt. Kein Wort über die bittere Armut, in der die große Masse der Menschen in Tibet dahinzuvegetieren genötigt war, über ihre elenden Behausungen, die immer wieder grassierenden Hungersnöte; kein Wort zu Schuldknechtschaft und Sklaverei, in der sie unentrinnbar und über Generationen hinweg gehalten wurden, ausgebeutet bis aufs Blut von einer winzigen Schicht aus Adel und hohem Klerus. Allein die Familie des Dalai Lama, die nach seiner Inthronisierung 1939 in den höchsten Adelsstand erhoben worden war, besaß 27 Landgüter samt der diese bewirtschaftenden Familien: mehr als 40000 Menschen in persönlicher Leibeigenschaft.

Schlechtes Karma

Privilegierte beziehungsweise benachteiligte Lebensumstände wurden erklärt und gerechtfertigt durch die buddhistische Karmalehre, der zufolge sich das gegenwärtige Leben als Ergebnis angesammelten Verdienstes bzw. aufgehäufter Schuld früherer Leben darstelle. Wer sich als unterdrückter und ausgebeuteter Bauer gegen die miserablen Lebensumstände zur Wehr zu setzen wagte, häufte, so die Doktrin der Lamas, schlechtes Karma an, mit der Folge furchtbarer Strafen im Zwischenleben zwischen Tod und Wiedergeburt, und noch elenderer Lebensbedingungen in der nächsten Inkarnation. Ganz zu schweigen von drohenden Strafen in diesem Leben: das Strafrecht des tibetischen Priesterstaates zeichnete sich durch Willkür und unglaubliche Grausamkeit aus. Unbotmäßigen wurde bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, bei leichteren Vergehen stach man ihnen die Augen aus oder hackte ihnen die Hände ab. Derlei Strafmaßnahmen waren bis in die Ägide des gegenwärtigen Dalai Lama hinein üblich, jedes Kloster verfügte insofern über eine eigene Folterkammer.

Wesentliches Unterdrückungsinstrument des Priesterstaates war allgegenwärtige und sämtliche Ebenen des Lebens durchziehende religiöse Indoktrination, die mit der Lehre des Buddhismus, wie man sie aus anderen Ländern Südostasiens kennt und wie sie, streckenweise zumindest, durchaus fortschrittliche Ideen in sich trägt, wenig bis gar nichts zu tun hat. Der tibetische Buddhismus ist ein abstruses Konglomerat aus animistischem Geister- und Dämonenglauben. Den gab es in Tibet schon in vorbuddhistischer Zeit, verbunden mit menschenunwürdigen Demuts- und Unterwerfungsritualen. Wie jede Religion basiert er wesentlich auf raffiniert und gezielt geschürter Angst vor dem Jenseits, respektive dem Zwischenleben, Bardo genannt, bis zur nächsten Reinkarnation. Horrende Monster-, Vampir- und Teufelsvorstellungen durchziehen dieses Bardo-Zwischenleben, das zwischen 49 Tagen und Äonen unvorstellbarer Länge dauert. Wer die Gebote der Lamas nicht befolgt, findet sich unweigerlich in einer der sechzehn Höllen des Bardo wieder. Eine davon besteht aus einem »stinkenden Sumpf von Exkrementen«, in dem man bis zum Hals versinkt; zugleich wird man »von den scharfen Schnäbeln dort lebender riesiger Insekten bis aufs Mark zerfressen und zerpickt«. In anderen Höllen wird man verbrannt, zerschlagen, zerquetscht, von Felsbrocken zermalmt oder von Teufelsmonstern mit riesigen Rasiermessern in tausend Stücke zerschnitten – und das immer wieder aufs Neue. In der dann folgenden Reinkarnation wird man womöglich nicht als Mensch wiedergeboren, sondern als Tier, als Hund etwa oder als Wurm. Als Höchststrafe für einen Mann gilt eine Wiedergeburt als Frau.

Was derlei pathologischer Strafwahn mit Höllenqual, mit Teufeln, Monstern und Vampiren in den Köpfen einfach strukturierter, ungebildeter Menschen anrichtet – ganz zu schweigen von den Köpfen drei- oder vierjähriger Kinder, die man damit vollstopft –, läßt sich nicht einmal ansatzweise erahnen. Der Dalai Lama jedenfalls erklärt unmissverständlich und mit wie üblich infantil-kicherndem Unterton, daß die in den buddhistischen Texten mit sadistischem Detailreichstem beschriebenen Folterqualen keineswegs metaphorisch zu verstehen seien, sondern daß diese karmischen Strafen, samt den 16 Höllen, wirklich und ganz real existieren. Der Höllen- und Monsterwahn war das wesentliche Macht- und Unterdrückungsinstrument der Lamas, mit dem sie die Menschen mit bis an den schieren Irrsinn heranführenden Ängsten besetzten.

Von alledem ist in den Geburtstagselogen für »Seine Heiligkeit« nicht die Rede. Stattdessen werden die Glückwunsch- und Ergebenheitsadressen in gewohnter Manier genutzt, nicht zuletzt vom ihm selbst, für propagandistische Tiraden gegen die Volksrepublik China, deren im zurückliegenden Vierteljahrhundert geleistete soziale und wirtschaftliche Aufbauarbeit im Gebiet der tibetischen Ethnien in der Berichterstattung völlig ausgeblendet wird. Vielmehr wird die Volksrepublik vom Gros der Westmedien als gnadenlos repressive Besatzungsmacht vorgestellt, deren langfristiges Ziel in der völligen Auslöschung der tibetischen Kultur liege.

Tatsächlich gibt es nicht den geringsten Hinweis auf einen – wie der Dalai Lama es nennt – »fortschreitenden kulturellen Genozid« in Tibet, ganz im Gegenteil: Tibetische Kultur und Freizügigkeit – Wissenschaft, Literatur, Kunst – blühen in einem Maße, wie dies zu Zeiten des Lama-Regimes völlig undenkbar war. Die stete Klage über Verstöße Pekings gegen die Rechte der tibetischen Bevölkerung – zutreffend in der Tat bis in die 1980er hinein – spiegelt längst nicht mehr die Realität Tibets wider. Entgegen anderslautender Propaganda gibt es auch keinerlei Einschränkung in der Ausübung religiöser Praktiken und Riten – ungeachtet dessen, was von ihnen zu halten ist. Lediglich Angehörige des Klerus bekommen Probleme, wenn sie, wie etwa im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking, Gewalt gegen die chinesische Zivilbevölkerung vom Zaune brechen.

Langlebenszeremonien

Während hiesige Tibet-Unterstützergruppen Langlebenszeremonien für »Seine Heiligkeit« veranstalten oder online Gebete und Glückwünsche für ihn sammeln – in London fand am Wochenende gar ein eigenes Tibet-Konzert statt –, nimmt außerhalb der westlichen Hemisphäre kaum jemand Notiz vom Geburtstag des vormaligen »Gottkönigs«. Am wenigsten in Tibet, wo weitaus weniger Menschen sich noch für ihn oder seine seit 1959 im nordindischen Dharamsala ansässige »Exilregierung« interessieren, als er und seine Anhängerschaft meinen oder großsprecherisch vorgeben.

Und auch hierzulande ist der Hype –im Vergleich zu den großaufgezogenen Feierlichkeiten und Lobreden anlässlich seines 70. – spürbar gedämpft. Während der Dalai Lama vor fünf Jahren noch Dutzende von Orden, Auszeichnungen und Ehrendoktoraten erhielt, nebst »Hessischem Friedenspreis«, in Büchern, Bildbänden, einer Sonderausstellung mit Porträtfotos und gar einem eigenen Film über sein Lebenswerk gewürdigt wurde, ist zu seinem 75. das öffentliche Interesse an ihm geringer geworden. Der Grund dafür dürfte in der Erinnerung von Journalisten und Redakteuren an die gnadenlose Manipulation der Medien liegen, die er im Zuge der Olympischen Spiele 2008 in Szene gesetzt hatte: Seine absurden Versuche etwa, den marodierenden und um sich prügelnden Mob tibetischer Mönche, der ganze Straßenzüge Lhasas in Schutt und Asche gelegt und zahlreiche Tote zu verantworten hatte, als verkleidete chinesische Soldaten auszugeben. Selbst der Stern, über Jahre hinweg treuestes Hofberichterstattungsorgan, ging vor geraumer Zeit schon mit einer kritischen Titelgeschichte auf Distanz.

Nach wie vor aber gibt es immer noch zahllose Gutgläubige, die, über Geschichte und Gegenwart Tibets nur unzureichend informiert, das romantische Bild einer friedvollen, harmonischen Mönchsrepublik unter der Führung eines gütigen, hochweisen und allzeit friedfertigen Dalai Lama kultivieren und von hiesigen Meinungsmachern bewusst in dieser Fehlauffassung bestärkt werden. Der insofern hochgezogenen Tibet-Schimäre wird das Zerrbild einer aggressiven und kulturfeindlichen Volksrepublik China gegenübergestellt, wie es der Realität nicht entspricht.

Anmerkungen und Quellen

Colin Goldner ist Autor der kritischen Biographie »Dalai Lama: Fall eines Gottkönigs«, erschienen im Alibri-Verlag in Aschaffenburg. Zum Weiterlesen: www.gottkoenig.de

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