Kritik der Nationalökonomie

Handel beruht auf Faustrecht

Am 28. November 1820 in Barmen, Wuppertal wurde Friedrich Engels geboren. Mit 23 Jahren schrieb er die »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie«.

Die Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft.

Diese aus dem gegenseitigen Neid und der Habgier der Kaufleute entstandene Nationalökonomie oder Bereicherungswissenschaft trägt das Gepräge der ekelhaftesten Selbstsucht auf der Stirne. Man lebte noch in der naiven Anschauung, dass Gold und Silber der Reichtum sei, und hatte also nichts Eiligeres zu tun, als überall die Ausfuhr der »edlen« Metalle zu verbieten. Die Nationen standen sich gegenüber wie Geizhälse, deren jeder seinen teuren Geldsack mit beiden Armen umschließt und mit Neid und Argwohn auf seine Nachbarn blickt. Alle Mittel wurden aufgeboten, um den Völkern, mit denen man im Handelsverkehr stand, soviel bares Geld wie möglich abzulocken und das glücklich Hereingebrachte hübsch innerhalb der Mautlinie zu behalten.

Die konsequenteste Durchführung dieses Prinzips hätte den Handel getötet. Man fing also an, diese erste Stufe zu überschreiten; man sah ein, dass das Kapital im Kasten tot daliegt, während es in der Zirkulation sich stets vermehrt. Man wurde also menschenfreundlicher, man schickte seine Dukaten als Lockvögel aus, damit sie andere mit sich zurückbringen sollten, und erkannte, dass es nichts schadet, wenn man dem A zuviel für seine Ware bezahlt, solange man sie noch bei B für einen höheren Preis loswerden kann.

Auf dieser Basis erbaute sich das Merkantilsystem. Der habgierige Charakter des Handels wurde schon etwas versteckt; die Nationen rückten sich etwas näher, sie schlossen Handels- und Freundschaftstraktate, sie machten gegenseitig Geschäfte und taten einander, um des größern Gewinns willen, alles mögliche Liebe und Gute an. Aber im Grunde war es doch die alte Geldgier und Selbstsucht, und diese brach von Zeit zu Zeit in den Kriegen aus, die in jener Periode alle auf Handelseifersucht beruhten. In diesen Kriegen zeigte es sich auch, dass der Handel, wie der Raub, auf dem Faustrecht beruhe; man machte sich gar kein Gewissen daraus, durch List oder Gewalt solche Traktate zu erpressen, wie man sie für die günstigsten hielt.

Der Hauptpunkt im ganzen Merkantilsystem ist die Theorie von der Handelsbilanz. Da man nämlich noch immer an dem Satz festhielt, dass Gold und Silber der Reichtum sei, so hielt man nur die Geschäfte für vorteilbringend, die am Ende bares Geld ins Land brächten. Um dies ausfindig zu machen, verglich man die Ausfuhr und Einfuhr. Hatte man mehr aus- als eingeführt, so glaubte man, dass die Differenz in barem Gelde ins Land gekommen sei, und hielt sich um diese Differenz reicher. Die Kunst der Ökonomen bestand also darin, dafür zu sorgen, dass am Ende jedes Jahres die Ausfuhr eine günstige Bilanz gegen die Einfuhr gebe; und um dieser lächerlichen Illusion willen sind Tausende von Menschen geschlachtet worden! Der Handel hat auch seine Kreuzzüge und seine Inquisition aufzuweisen.

Das achtzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der Revolution, revolutionierte auch die Ökonomie; aber wie alle Revolutionen dieses Jahrhunderts einseitig waren und im Gegensatz steckenblieben, wie dem abstrakten Spiritualismus der abstrakte Materialismus, der Monarchie die Republik, dem göttlichen Recht der soziale Kontrakt entgegengesetzt wurde, so kam auch die ökonomische Revolution nicht über den Gegensatz hinaus. Die Voraussetzungen blieben überall bestehen; der Materialismus griff die christliche Verachtung und Erniedrigung des Menschen nicht an und stellte nur statt des christlichen Gottes die Natur dem Menschen als Absolutes gegenüber; die Politik dachte nicht daran, die Voraussetzungen des Staates an und für sich zu prüfen; die Ökonomie ließ sich nicht einfallen, nach der Berechtigung des Privateigentums zu fragen. Darum war die neue Ökonomie nur ein halber Fortschritt; (…) sie affektierte einen heiligen Abscheu gegen die blutigen Schrecken des Merkantilsystems und erklärte den Handel für ein Band der Freundschaft und Einigung zwischen den Nationen wie zwischen Individuen. Es war alles lauter Pracht und Herrlichkeit – aber die Voraussetzungen machten sich bald genug wieder geltend (…); sie erzeugten und hoben das Fabriksystem und die moderne Sklaverei, die der alten nichts nachgibt an Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Die neue Ökonomie, das auf Adam Smiths »Wealth of Nations« gegründete System der Handelsfreiheit, erweist sich als dieselbe Heuchelei, Inkonsequenz und Unsittlichkeit, die jetzt auf allen Gebieten der freien Menschlichkeit gegenübersteht.

Handel ist legaler Betrug

Aber war denn das Smithsche System (Adam Smith, 1723–1790, Begründer der klassischen Nationalökonomie, d. h. der Theorie des Kapitalismus der freien Konkurrenz, des politischen Liberalismus und des Freihandels. Quelle von Reichtum war für ihn Arbeit. jW) kein Fortschritt? ­– Freilich war es das, und ein notwendiger Fortschritt dazu. Es war notwendig, dass das Merkantilsystem (Merkantilismus war die in Europa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vorherrschende Wirtschaftstheorie und -politik absolutistischer Monarchien. Gefördert wurden Exporte, Importe beschränkt, Handelsüberschüsse galten als Quelle des Reichtums. jW) mit seinen Monopolen und Verkehrshemmungen gestürzt wurde, damit die wahren Folgen des Privateigentums ans Licht treten konnten; es war notwendig, dass alle diese kleinlichen Lokal- und Nationalrücksichten zurücktraten, damit der Kampf unserer Zeit ein allgemeiner, menschlicher werden konnte; es war notwendig, dass die Theorie des Privateigentums den rein empirischen, bloß objektiv versuchenden Pfad verließ und einen wissenschaftlichen Charakter annahm, der sie auch für die Konsequenzen verantwortlich machte und dadurch die Sache auf ein allgemein menschliches Gebiet herüberführte; dass die in der alten Ökonomie enthaltene Unsittlichkeit durch den Versuch ihrer Wegleugnung und durch die hereingebrachte Heuchelei – eine notwendige Konsequenz dieses Versuches – auf den höchsten Gipfel gesteigert wurde. All dies lag in der Natur der Sache. Wir erkennen gerne an, dass wir erst durch die Begründung und Ausführung der Handelsfreiheit in den Stand gesetzt sind, über die Ökonomie des Privateigentums hinauszugehen, aber wir müssen zu gleicher Zeit auch das Recht haben, diese Handelsfreiheit in ihrer ganzen theoretischen und praktischen Nichtigkeit darzustellen. (…)

Der einzig positive Fortschritt, den die liberale Ökonomie gemacht hat, ist die Entwicklung der Gesetze des Privateigentums. Diese sind allerdings in ihr enthalten, wenn auch noch nicht bis zur letzten Konsequenz entwickelt und klar ausgesprochen. Hieraus folgt, dass in allen Punkten, wo es auf die Entscheidung über die kürzeste Manier, reich zu werden, ankommt, also in allen strikt ökonomischen Kontroversen, die Verteidiger der Handelsfreiheit das Recht auf ihrer Seite haben. (…)

Der Ausdruck Nationalreichtum ist erst durch die Verallgemeinerungssucht der liberalen Ökonomen aufgekommen. Solange das Privateigentum besteht, hat dieser Ausdruck keinen Sinn. Der »Nationalreichtum« der Engländer ist sehr groß, und doch sind sie das ärmste Volk unter der Sonne. (…) Die Wissenschaft sollte unter den jetzigen Verhältnissen Privatökonomie heißen, denn ihre öffentlichen Beziehungen sind nur um des Privateigentums willen da.

Die nächste Folge des Privateigentums ist der Handel, der Austausch der gegenseitigen Bedürfnisse, Kauf und Verkauf. Dieser Handel muss unter der Herrschaft des Privateigentums, wie jede Tätigkeit, eine unmittelbare Erwerbsquelle für den Handeltreibenden werden; d. h. jeder muss suchen, so teuer wie möglich zu verkaufen und so billig wie möglich zu kaufen. Bei jedem Kauf und Verkauf stehen sich also zwei Menschen mit absolut entgegengesetzten Interessen gegenüber; der Konflikt ist entschieden feindselig, denn jeder kennt die Intention des andern, weiß, dass sie den seinigen entgegengesetzt sind. Die erste Folge ist also auf der einen Seite gegenseitiges Misstrauen, auf der andern die Rechtfertigung dieses Misstrauens, die Anwendung unsittlicher Mittel zur Durchsetzung eines unsittlichen Zwecks. So ist z. B. der erste Grundsatz im Handel die Verschwiegenheit, Verheimlichung alles dessen, was den Wert des fraglichen Artikels herabsetzen könnte. Die Konsequenz daraus: Es ist im Handel erlaubt, von der Unkenntnis, von dem Vertrauen der Gegenpartei den möglichst großen Nutzen zu ziehen, und ebenso, seiner Ware Eigenschaften anzurühmen, die sie nicht besitzt. Mit einem Worte, der Handel ist der legale Betrug. Dass die Praxis mit dieser Theorie übereinstimmt, kann mir jeder Kaufmann, wenn er der Wahrheit die Ehre geben will, bezeugen.

Das Merkantilsystem hatte noch eine gewisse unbefangene, katholische Geradheit und verdeckte das unsittliche Wesen des Handels nicht im mindesten. (…) Die gegenseitig feindselige Stimmung der Nationen im achtzehnten Jahrhundert, der ekelhafte Neid und die Handelseifersucht waren die konsequenten Folgen des Handels überhaupt. Die öffentliche Meinung war noch nicht humanisiert, was sollte man also Dinge verstecken, die aus dem unmenschlichen feindseligen Wesen des Handels selbst folgten.

Konkurrenten – eine Horde reißender Tiere

Es ist also sehr unklug von einer Nation gehandelt, wenn sie bei ihren Versorgern und Kunden eine feindselige Stimmung nährt. Je freundschaftlicher, desto vorteilhafter. Dies ist die Humanität des Handels, und diese gleisnerische Art, die Sittlichkeit zu unsittlichen Zwecken zu mißbrauchen, ist der Stolz des Systems der Handelsfreiheit. Haben wir nicht (…), rufen die Heuchler aus, (…) die Völker verbrüdert und die Kriege vermindert? – Ja, das alles habt ihr getan, aber wie habt ihr es getan! Ihr habt die kleinen Monopole vernichtet, um das eine große Grundmonopol, das Eigentum, desto freier und schrankenloser wirken zu lassen; ihr habt die Enden der Erde zivilisiert, um neues Terrain für die Entfaltung eurer niedrigen Habsucht zu gewinnen, ihr habt die Völker verbrüdert, aber zu einer Brüderschaft von Dieben, und die Kriege vermindert, um im Frieden desto mehr zu verdienen, um die Feindschaft der einzelnen, den ehrlosen Krieg der Konkurrenz, auf die höchste Spitze zu treiben! – Wo habt ihr etwas aus reiner Humanität, aus dem Bewusstsein der Nichtigkeit des Gegensatzes zwischen dem allgemeinen und individuellen Interesse getan? Wo seid ihr sittlich gewesen, ohne interessiert zu sein, ohne unsittliche, egoistische Motive im Hintergrund zu hegen?

Nachdem die liberale Ökonomie ihr Bestes getan hatte, um durch die Auflösung der Nationalitäten die Feindschaft zu verallgemeinern, die Menschheit in eine Horde reißender Tiere – und was sind Konkurrenten anders? – zu verwandeln, die einander ebendeshalb auffressen, weil jeder mit allen andern gleiches Interesse hat, nach dieser Vorarbeit blieb ihr nur noch ein Schritt zum Ziele übrig, die Auflösung der Familie. Um diese durchzusetzen, kam ihr eine eigene schöne Erfindung, das Fabriksystem, zu Hülfe. Die letzte Spur gemeinsamer Interessen, die Gütergemeinschaft der Familie, ist durch das Fabriksystem untergraben und – wenigstens hier in England – bereits in der Auflösung begriffen. Es ist etwas ganz Alltägliches, dass Kinder, sobald sie arbeitsfähig, d. h. neun Jahre alt werden, ihren Lohn für sich verwenden, das elterliche Haus als ein bloßes Kosthaus ansehen und den Eltern ein Gewisses für Kost und Wohnung vergüten. Wie kann es anders sein? Was kann anders aus der Isolierung der Interessen, wie sie dem System der Handelsfreiheit zugrunde liegt, folgen? (…)

Aber der Ökonom weiß selbst nicht, welcher Sache er dient. Er weiß nicht, dass er mit all seinem egoistischen Raisonnement doch nur ein Glied in der Kette des allgemeinen Fortschrittes der Menschheit bildet. Er weiß nicht, dass er mit seiner Auflösung aller Sonderinteressen nur den Weg bahnt für den großen Umschwung, dem das Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst (…)

Wir haben gesehen, dass am Ende alles auf die Konkurrenz hinausläuft, solange das Privateigentum besteht. (…)

Die Konkurrenz hat alle unsre Lebensverhältnisse durchdrungen und die gegenseitige Knechtschaft, in der die Menschen sich jetzt halten, vollendet. Die Konkurrenz ist die große Triebfeder, die unsre alt und schlaff werdende soziale Ordnung, oder vielmehr Unordnung, immer wieder zur Tätigkeit aufstachelt, aber bei jeder neuen Anstrengung auch einen Teil der sinkenden Kräfte verzehrt. Die Konkurrenz beherrscht den numerischen Fortschritt der Menschheit, die beherrscht auch ihren sittlichen. (…) Die Ausdehnung des Fabriksystems hat überall eine Vermehrung der Verbrechen zur Folge. Man kann die Anzahl der Verhaftungen, Kriminalfälle, ja die Anzahl der Morde, der Einbrüche, der kleinen Diebstähle usw. für eine große Stadt oder einen Bezirk mit jedes Mal zutreffender Genauigkeit alljährlich vorausbestimmen, wie dies in England oft genug geschehen ist. Diese Regelmäßigkeit beweist, dass auch das Verbrechen von der Konkurrenz regiert wird, dass die Gesellschaft eine Nachfrage nach Verbrechen erzeugt, der durch eine angemessene Zufuhr entsprochen wird, dass die Lücke, die durch die Verhaftung, Transportierung oder Hinrichtung einer Anzahl gemacht, sogleich durch andere wieder aufgefüllt wird, gerade wie jede Lücke in der Bevölkerung sogleich wieder durch neue Ankömmlinge aufgefüllt wird, mit andern Worten, dass das Verbrechen ebenso auf die Mittel der Bestrafung drückt wie die Völker auf die Mittel der Beschäftigung. Wie gerecht es unter diesen Umständen, abgesehen von allen andern, ist, Verbrecher zu bestrafen, überlasse ich dem Urteil meiner Leser. Mir kommt es hier bloß darauf an, die Ausdehnung der Konkurrenz auch auf das moralische Gebiet nachzuweisen und zu zeigen, zu welcher tiefen Degradation das Privateigentum den Menschen gebracht hat.

Fußnote

Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. Deutsch-Französische Jahrbücher. Paris 1844. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 1. Dietz-Verlag, Berlin 1972, Seiten 504–505 sowie Seite 523

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