Ende des Osmanischen Reiches

Vor 100 Jahren wurde die kosmopolitische Metropole an der Ägäis nach ihrer Einnahme durch türkische Truppen zerstört.

Ein »Szenario entsetzlicher und majestätischer Zerstörung« bot sich dem Korrespondenten der Tageszeitung Daily Mail. »An Deck der Iron Duke stehend sehe ich eine ununterbrochene Feuerwand«, schilderte der sich an Bord eines britischen Schlachtschiffes vor der türkischen Ägäisküste befindliche Journalist am 16. September 1922. »Das Meer leuchtet tief kupferrot. Und das Schlimmste von allem: Aus der dicht gedrängten Menge von vielen tausend Flüchtlingen, die sich auf dem schmalen Kai zusammengekauert haben, zwischen dem fortschreitenden feurigen Tod und dem tiefen Wasser, dringen unablässig verzweifelte Schreie purer Angst, die noch meilenweit zu hören sind.«

Stadt der Ungläubigen

Die Vernichtung der Stadt Smyrna (türkisch: Izmir), deren Zeuge der Reporter wurde, war der Schlusspunkt des griechisch-türkischen Krieges, der in der türkischen Geschichtsschreibung als zentraler Teil des zur Republikgründung führenden Unabhängigkeitskrieges gefeiert wird. Die kosmopolitische Handelsmetropole an der Ägäisküste galt frommen osmanischen Muslimen und insbesondere den jungtürkischen Nationalisten, die einen rein türkisch-sunnitischen Staat anstrebten, als »Gavur (ungläubiges) Smyrna«. Dies bezog sich auf den hohen nichtmuslimischen Bevölkerungsanteil: Laut Baedeker von 1910 waren 150.000 der 250.000 Einwohner Griechen, dazu kamen Armenier, Levantiner und Juden. Gemeint war aber auch die Dominanz der levantinischen Bourgeoisie europäischen Ursprungs über das wirtschaftliche und soziokulturelle Leben der Stadt.

Im Mai 1919 hatten griechische Invasionstruppen um Smyrna eine Besatzungszone errichtet, von der aus sie nach Überfällen von türkischen Partisanen und Briganten immer tiefer nach Anatolien vorstießen. Der griechische Ministerpräsident Eleftherios Venizelos, der die »Megali Idea« (Große Idee) einer Wiedererrichtung des Byzantinischen Reiches propagierte, erhielt dabei Rückendeckung vom britischen Premierminister David Lloyd George. Der sah in den Griechen Hilfstruppen für die Umsetzung der von der Entente beschlossenen Aufteilungspläne für die Reste des Osmanischen Reiches, gegen die sich in Anatolien eine Widerstandsbewegung unter Führung von General Mustafa Kemal – dem späteren Atatürk – gebildet hatte.

Der griechische Vormarsch erlahmte ab Sommer 1921 infolge stockenden Nachschubs und ausbleibender Unterstützung durch die Westmächte. Im August 1922 gelang es den Nationalen Kräften, der griechischen Armee bei Dulumpinar eine vernichtende Niederlage beizubringen. Die geschlagenen Invasoren flohen zur Küste. Dabei hinterließen sie verbrannte Erde und abgeschlachtete Zivilisten in allen muslimischen Dörfern, die sie passierten. Den Truppen schloss sich aus Furcht vor türkischen Racheakten ein Großteil der griechischen Bevölkerung Anatoliens an. Am 8. September wurden die letzten griechischen Soldaten in Smyrna ausgeschifft.

Die siegreichen türkischen Einheiten zogen am folgenden Tag in die Stadt ein. Dort kam es – nicht zuletzt unter dem Eindruck der vorangegangenen Greueltaten der griechischen Armee – zu Plünderungen der Geschäfte von Griechen und Armeniern sowie Massakern, denen unter anderem der von einem Mob mit Messern gelynchte Metropolit Chrysóstomos zum Opfer fiel.

Am Abend des 13. September brachen Feuer zuerst im armenischen Viertel aus – dort wohnten zehntausend Überlebende des Genozids, die dank einer Intervention des deutschen Generals Liman von Sanders 1915 den Deportationen entgangen waren. Die Feuer breiteten sich schnell auf die in einem Dreieck angeordneten griechischen und levantinischen Wohnviertel aus, während die darunter gelegenen muslimischen und jüdischen Viertel verschont blieben. Nach vier Tagen lagen zwei Drittel der Hafenstadt in Schutt und Asche.

Ursache des Feuers

Über die Brandursache gibt es bis heute keine vollständige Klarheit. Bereits am 17. September 1922 erließ Mustafa Kemal eine Sprachregelung, wonach die Armee Maßnahmen zum Schutze der Stadt ergriffen habe, »doch Griechen und Armenier haben nach ihren vorab vereinbarten Plänen beschlossen, Izmir zu zerstören« und die Feuer gelegt. Eine behördliche Untersuchung komme aber nicht in Frage, so die Anweisung. Dagegen ging der Journalist Falih Rifki Atay – selbst ein Anhänger der kemalistischen Bewegung – als Zeuge der Ereignisse davon aus, dass die türkischen Truppen das Feuer vorsätzlich auf Befehl ihres fanatischen Kommandanten Nureddin Pascha gelegt hatten. Eine differenziertere Theorie vertrat der britische Historiker Lord Kinross, der dem Brand in seiner Atatürk-Biographie von 1965 ein ganzes Kapitel gewidmet hatte: »Höchstwahrscheinlich begann er, als die Türken die Armenier zusammentrieben, um ihre Waffen zu konfiszieren, und eine Gruppe von ihnen in einem Gebäude belagerten, in dem sie Zuflucht gesucht hatten«, heißt es dort. Die Soldaten »beschlossen, sie auszuräuchern, setzten das Gebäude mit Benzin in Brand und stellten eine Reihe von Wachposten auf, um sie festzunehmen oder zu erschießen, wenn sie entkamen. In der Zwischenzeit legten die Armenier andere Feuer, um die Türken von ihrem Hauptziel abzulenken.« Durch starken Wind – aber auch durch Brandstiftung von Plünderern und Soldaten – hätten die Feuer auf andere Viertel übergegriffen.

Hunderttausende christliche Bewohner und Flüchtlinge harrten an den Kaianlagen aus. »Wir befinden uns zwischen drei tödlichen Gefahren: Feuer, Schwert und Wasser. Unsere Lage ist trostlos«, vermerkte der armenische Arzt Garabed Hatscherian in seinem Tagebuch und fügte an, dass die Besatzungen der italienischen, französischen und US-Kriegsschiffe, die 200 Meter vor der brennenden Stadt ankerten, Filme über das Martyrium der Schutzsuchenden drehten. »So zeigten die zivilisierten Staaten von Europa und Amerika ihre Anteilnahme und ihr Interesse an unserem Schicksal, statt uns die von ihnen erhoffte materielle und militärische Unterstützung geben zu können«, beklagte Hatscherian. Erst am 24. September, als bereits um die 50.000 Menschen in der Stadt massakriert worden waren, leiteten die Ententeschiffe die Evakuierung der Zivilisten ein.

Die »kleinasiatische Katastrophe« beendete nach drei Jahrtausenden die Präsenz des Griechentums auf dem Gebiet der heutigen Türkei. 1923 segneten die Ententemächte mit der im Friedensvertrag von Lausanne enthaltenen »Konvention über den Austausch der griechischen und türkischen Bevölkerungen« die Vertreibung von 1,25 Millionen Griechen – das Kriterium war die Zugehörigkeit zur griechisch-orthodoxen Religion – aus der Türkei sowie die Zwangsumsiedlung von einer halben Million türkischer Muslime aus Griechenland ab. Eben jene Mächte hatten mit ihrer imperialistischen Orientpolitik zuvor dazu beigetragen, die Feindschaft dieser Völker bis zum Siedepunkt anzuheizen.

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