GerDiA

Die sozialen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft werden in der Öffentlichkeit stets als Pluspunkt für die Kirchen wahrgenommen. Was viele Menschen nicht wissen: Das finanzielle Engagement der Kirchen hält sich in engen Grenzen, viele Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Altenheime werden zu 100% aus öffentlichen Mitteln unterhalten. Auch Kindergärten, die am ehesten als kirchliche Aushängeschilder gelten, werden nur zum geringsten Teil kirchlich finanziert.

Dafür ist der kirchliche Einfluss auf die Arbeitsverhältnisse umso größer. Denn dort gilt ein eigenes Arbeitsrecht, das zahlreiche Grundrechte der Beschäftigten einschränkt und insbesondere Konfessionslose diskriminiert.

„Die offensive Ausgrenzungspolitik kirchlicher Betriebe ist ein Skandal, der nicht weiter hingenommen werden darf.“

Die europäischen Antidiskriminierungsbestimmungen müssen auch in kirchlichen Einrichtungen gelten!

Die ehemalige Spitzenpolitikerin der SPD Frau Ingrid Matthäus-Maier ist die Sprecherin von GerDiA

GerDiA ist = Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz

Dies war das Ziel der Kampagne „Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz“, die bereits 2012 gestartet wurde.

Inzwischen stellt GerDiA als dauerhaftes Projekt Information und Unterstützung für Betroffene bereit.

Zentrale Forderung ist die Religions- und Weltanschauungsfreiheit in allen öffentlich finanzierten Sozialeinrichtungen zu gewährleisten. Das kirchliche Arbeitsrecht führt hier zu offenkundigen Verstößen gegen das Grundgesetz. Religionsgesellschaften dürfen sich nicht in die private Lebensführung ihrer Angestellten einmischen. Der „besondere Tendenzschutz“ für Religionsgemeinschaften im Betriebsverfassungsgesetzes muss ersatzlos gestrichen werden. Zudem müssen die Beschäftigten die gleichen Rechte wie andere Arbeitnehmer haben, also einen Betriebsrat bilden und streiken dürfen.

Die ehemalige Spitzenpolitikerin der SPD und Sprecherin von GerDiA, Frau Ingrid Matthäus-Maier, formuliert es klar:

„Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum für Caritas und Diakonie andere Bestimmungen gelten sollten als für die Arbeiterwohlfahrt.“

Das Projekt beleuchtet das Thema aus einer säkularen Perspektive. Denn auch in Diakonie und Caritas arbeiten viele konfessionslose oder andersgläubige Menschen. Selbst christliche Mitarbeitenden wissen oft nicht, welchen „Loyalitätsanforderungen“ sie zu genügen haben.

Über eine Million Menschen arbeiten in Deutschland in kirchlichen Einrichtungen. Sie alle müssen auf ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit und andere Grundrechte verzichten. Sie sind besonderen Loyalitätspflichten unterworfen, weil das Betriebsverfassungsgesetz nicht gilt und das „Antidiskriminierungsgesetz“ weitreichende Ungleichbehandlungen erlaubt. So werden Konfessionslose und Andersgläubige nicht eingestellt und ein Kirchenaustritt führt zur Entlassung. In katholischen Einrichtungen kommen Homosexualität, „uneheliche“ Kinder und die Wiederverheiratung nach einer Scheidung als Kündigungsgründe hinzu. Betroffen sind keineswegs nur „verkündigungsnahe“ Berufe wie Pfarrer oder Diakon, sondern die Regelungen gelten auch für Ärztinnen, Krankenpfleger, Hebammen, Lehrerinnen, Hausmeister, Küchenhilfen…

Dieses kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland ist einzigartig in Europa.

Aber was bedeutet „kirchliches Arbeitsrecht“?

Rechtliche Grundlage des kirchlichen Arbeitsrechts ist das sog. Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (Art. 137, Abs 3 WRV / Art 140 GG). Daraus leitet sich der Anspruch ab, dass das Betriebsverfassungsgesetz in kirchlichen Einrichtungen nicht zur Anwendung kommt (BetrVG § 118, Abs. 2) und stattdessen ein eigenes, kircheninternes Arbeitsrechtsregelungsverfahren und ein Mitbestimmungsvertretungsrecht geschaffen wird.

Kernvorstellung des kirchliches Arbeitsrechts ist die „Dienstgemeinschaft“, in der Dienstgeber (in der Rolle des Arbeitgebers) und „Dienstnehmer“ (in der Rolle des Arbeitnehmers) „gemeinsam im Dienste Gottes arbeiten“, wie es der evangelische Theologe Manfred Kock in einem Vortrag ausdrückte. Deshalb lehnen die Kirchen Tarifverträge, Arbeitskampf und Betriebsräte als unangemessene Formen der Auseinandersetzung ab. Stattdessen gibt es paritätisch besetzte Kommissionen („Arbeitsrechtliche Kommissionen“ im evangelischen, „Kommissionen zur Ordnung des diözesanen Arbeitsrechts“ im katholischen Bereich), in denen Dienstgeber und Dienstnehmer miteinander verhandeln. Alle Regelungen sollen einvernehmlich getroffen werden (75% Zustimmung). Sofern dies nicht möglich ist, entscheidet der zuständige Bischof oder die Synode. Anstelle von Betriebsräten wurden „Mitarbeitervertretungen“ (MAV) eingerichtet, die allerdings über keine gleichwertigen Möglichkeiten verfügt.

Aus der Vorstellung der Dienstgemeinschaft leitet sich auch der Anspruch ab, die Beschäftigten in ihrem Privatleben zu reglementieren und ihre Grundrechte einzuschränken. Dies ist in der Arbeitswelt ansonsten nur in bestimmten Ausnahmen möglich („Tendenzschutz“).

Für eine Beurteilung der von kirchlicher Seite immer wieder vorgetragenen Behauptung, das kirchliche Arbeitsrecht ergebe sich zwingend aus ihrer im Grundgesetz beschriebenen Stellung, ist ein Vergleich mit der Zeit der Weimarer Republik interessant. Damals gab es, bei gleicher Rechtsgrundlage (Art 137, Abs. 3 WRV), keine derartig weit gehenden Sonderrechte der Kirchen.

Wo gilt das kirchliche Arbeitsrecht?

Wo und für wen das kirchliche Arbeitsrecht gilt, legen die Kirchen letztlich selbst fest. Auch dies hängt zusammen mit dem sog. Selbstbestimmungsrecht der Kirchen.

Im Betriebsverfassungsgesetz heißt es lediglich: Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform. (§ 118, Abs. 2). Die Kirchen gehen davon aus, dass ihre sämtlichen Einrichtungen unter diese Bestimmung fallen. Sie sehen ihr unternehmerisches Engagement im Sozialbereich ohnehin als „Verkündigung durch die helfende Tat am Nächsten“.

Dabei hat die Trägerschaft auf den Arbeitsalltag in den allermeisten Sozialeinrichtungen keinen entscheidenden Einfluss. Eine kommunale Klinik oder ein Krankenhaus der Arbeiterwohlfahrt funktioniert nicht anders als ein kirchliches Hospital. Trotzdem gelten unterschiedliche arbeitsrechtliche Regelungen.

Lediglich in offensichtlich gewerblichen Betrieben im kirchlichen Besitz, die rein wirtschaftliche Zwecke verfolgen (wie Brauereien), gilt das kirchliche Arbeitsrecht nicht uneingeschränkt.

Welche Folgen für die Arbeitnehmer ergeben sich aus dem kirchlichen Arbeitsrecht?

Das kirchliche Arbeitsrecht zieht für die Beschäftigten in zweierlei Hinsicht Folgen nach sich. Zum einen werden an sie höhere Loyalitätsanforderungen gestellt, die sich auch auf das Privatleben erstrecken; zum anderen haben sie nicht dieselben Möglichkeiten der betrieblichen Mitbestimmung und Streiks sind im kirchlichen Arbeitsrecht nicht vorgesehen.

Das bedeutet zunächst, dass Konfessionslose in kirchlichen Sozialeinrichtungen keine Anstellung finden, auch wenn sie fachlich für den Job qualifiziert wären. Für Beschäftigte zieht ein Kirchenaustritt die Kündigung nach sich. Auch „kirchenfeindliches Verhalten“ führt zur Entlassung. In katholischen Einrichtungen können darüber hinaus „Ehebruch“, die Wiederverheiratung nach einer Scheidung oder offen gelebte Homosexualität eine Kündigung zur Folge haben; in evangelischen Einrichtungen ist dies mittlerweile normalerweise nicht mehr der Fall.

Da die Kirche beansprucht, in ihren Einrichtungen hinsichtlich der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse einen „Dritten Weg“ zu gehen, schließt sie in der Regel keine Tarifverträge mit den Gewerkschaften ab. Anstelle eines Betriebsrates gibt es eine „Mitarbeitervertretung“. Im Falle einer Auseinandersetzung über Löhne oder Arbeitszeiten soll ein paritätisch besetztes Gremium aus „Dienstgebern“ und „Dienstnehmern“ eine einvernehmliche Lösung finden, wobei letztere nicht die Möglichkeit haben, ihren Forderungen durch Arbeitsniederlegungen Nachdruck zu verleihen.

„kircheneigenes System der Arbeitsrechtfindung“

Seit der Kostendruck im Gesundheitswesen steigt, sehen sich die Beschäftigten mit den aus der Privatwirtschaft bekannten Methoden, den Faktor „Arbeit“ zu verbilligen, konfrontiert. Vor allem in der Diakonie gibt es zahlreiche Beispiele für Outsourcing oder Leiharbeit. Mit dem Streikrecht fehlt den Arbeitnehmern das einzig erfolgversprechende Instrument, sich gegen diese Entwicklung zur Wehr zu setzen.

Was wird unter „Tendenzschutz“ verstanden?

Der Begriff „Tendenzschutz“ bezieht sich ursprünglich auf das Recht eines Zeitungsverlegers, die Blattlinie (konservativ, liberal, sozialistisch…) festzulegen und seine Angestellten auf diese zu verpflichten. Darüber hinaus gibt es den Begriff des „Tendenzbetriebs“; darunter sind Einrichtungen zu verstehen, die über die Gewinnerzielung hinaus politische, erzieherische oder ähnliche Ziele verfolgen (z.B. Parteibüros, politische Bildungsstätten, Interessenverbände). In solchen Betrieben gilt das Betriebsverfassungsgesetz nur eingeschränkt (BetrVG § 118, Abs. 1).

In diese Kategorie von Betrieben gehören Sozialeinrichtungen, die von Verbänden wie zum Beispiel der Arbeiterwohlfahrt betrieben werden. Für kirchliche Sozialeinrichtungen gelten noch weitergehende Bestimmungen, die Anwendung des Betriebsverfassungsgesetzes „auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform“ ist ausgeschlossen (BetrVG § 118, Abs. 2). Der besondere „Tendenzschutz“ der Kirchen ist insofern weiter gefasst und schlägt sich nicht nur in der Einschränkung der Mitbestimmung, sondern auch in Verhaltensvorschriften für die Beschäftigten nieder. Dabei gehen die Kirchen davon aus, dass alle ihre Angestellten die „Tendenz“ der jeweiligen kirchlichen Einrichtung verkörpern müssen. Von kirchlichen Vorstellungen abweichendes Verhalten von Mitarbeitern, auch im Privatleben, könne zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit führen. In dieser Logik erscheint es – zum Schutz der „Tendenz“ – gerechtfertigt, auf einen Kirchenaustritt oder einen Schwangerschaftsabbruch mit einer Kündigung zu reagieren.

Wen betrifft „Tendenzschutz“ in kirchlichen Einrichtungen?

Der Begriff des „Tendenzschutzes“ ist streng genommen für die Situation in kirchlichen Einrichtungen nicht ganz zutreffend, da die Arbeitnehmerrechte dort in noch größerem Umfang eingeschränkt sind als im „Tendenzbetrieb“. Während hier die Mitbestimmung nur bei Maßnahmen gegen „Tendenzträger“ und sofern ein „Tendenzbezug“ vorliegt, außer Kraft gesetzt wird, ist in kirchlichen Einrichtungen die Mitbestimmung in Personalfragen generell eingeschränkt.

Die besondere Loyalitätspflicht, die Beschäftigten abverlangt, selbst ihr Privatleben an der kirchlichen Lehre auszurichten, gilt für alle Angestellten – vom Betriebsleiter bis zur Reinigungskraft (wie aus der unten zu sehenden Stellenanzeige hervorgeht). Ob Ärztin oder Altenpfleger, Rettungssanitäter oder Schuldnercoach – wer in einer kirchlichen Sozialeinrichtung arbeitet, betreibt nach Auffassung der Kirchen „Verkündigung durch Dienst am Nächsten“. Folglich wird ein Kirchenaustritt oder (in katholischen Einrichtungen) „Ehebruch“ als Beeinträchtigung der „Tendenz“ des Betriebes verstanden und zieht die Kündigung nach sich.

Was ist unter „Loyalitätsobliegenheiten“ oder „Loyalitätspflichten“ zu verstehen?

Angestellte der Kirche oder kirchlicher Träger haben sich, sowohl in ihrem dienstlichen Verhalten als auch in der Gestaltung ihres Privatlebens, dem christlichen Glauben und christlicher Moralvorstellungen gemäß zu verhalten (Glaubens- und Sittengebote). Die Ordnung und die Glaubwürdigkeit der Kirche darf durch die Lebensführung von Beschäftigten nicht in Gefahr geraten.

Bei der Überprüfung, ob die Arbeiternehmer ihre Loyalitätspflichten einhalten, ist die Kirche wenig zimperlich. Es gibt einen Fall, in dem nicht davor zurückgeschreckt wurde, eine Privatdetektei zu beauftragen, als es darum ging, einer Angestellten eine solche Loyalitätspflichtverletzung nachzuweisen.

Was passiert, wenn… ?

Öffentliche Meinungsäußerung

Angestellte der katholischen Kirche, die sich offen und positiv zum Thema Abtreibung oder Homosexualität, die sich abwertend oder ablehnend gegenüber dem Papst oder dem Amt des Papstes äußern oder die zum Kirchenaustritt aufrufen, haben mit einer Kündigung als letztem Mittel zu rechnen. Auch in der evangelischen Kirche ist es ein Kündigungsgrund, wenn man zum Austritt aus der Kirche aufruft. Bei all diesen Äußerungen handelt es sich um Äußerungen, die im Grunde unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fallen.

Kirchenaustritt

In beiden großen Kirchen Deutschlands hat der Austritt aus der Kirche, auch wenn dieser nichts über Vorhandensein oder Intensität des christlichen Glaubens der Austretenden aussagt, die Kündigung zur Folge. In der evangelischen Kirche wird der Austritt als Zeichen „besonderer Illoyalität“ gesehen und hat die Kündigung zur Folge. Dieses Vorgehen  ist gerichtlich anerkannt.

Abtreibung

Frauen, denen eine Abtreibung nachgewiesen werden kann, haben in katholischen Einrichtungen mit einer Kündigung und sogar ihrer Exkommunikation, also dem Ausschluss aus der Kirche, zu rechnen.

Homosexualität

Menschen, die homosexuell sind und diese Homosexualität offen leben (sich outen, offen erkennbar eine solche Beziehung führen oder ihren gleichgeschlechtlichen Partner heiraten), kann in katholischen Einrichtungen gekündigt werden. Homosexualität wird in vielen christlichen Gemeinschaften als unnatürlich bzw. nicht gottgewollt, als „heilbar“ und somit krankhaft, als schädlich für die Gesellschaft betrachtet. Ursächlich hierfür sind die Homosexualität verdammenden Stellen in der Bibel, auf die sich Fundamentalisten beziehen.

Wiederheirat Geschiedener / Ehebruch

In den evangelischen Kirchen ist die Scheidung als „Notbehelf“ und letzter Weg erlaubt, eine Wiederheirat, sowohl nach zivilem als auch nach kirchlichem Recht gestattet. In einigen evangelischen Kirchen ist eine Scheidung aber ein „Versetzungsgrund“ für Pfarrer_innen.

In der römisch-katholischen Kirche ist eine Trennung akzeptiert, eine Scheidung aber weiterhin nicht erlaubt und gemäß der Auffassung der Ehe als einem Sakrament ist diese nur durch den Tod eines Partners aufzulösen. Dementsprechend ist auch eine Wiederheirat nicht gestattet und führt zur Kündigung. Getrennt Lebende verpflichten sich zur Enthaltsamkeit; eine sexuelle Beziehung, die z.B. durch die Geburt eines Kindes offenbar wird, kann als Ehebruch gewertet werden und ebenso zur Kündigung führen. Ebenso verstößt es gegen Glaubens- und Sittengebote der katholischen Kirche, wenn man einen Menschen heiratet, der geschieden ist.

Sog. „nichteheliche“ Kinder

Falls eine unverheiratete Frau ein Kind bekommt, kann dies gemäß den Moralvorstellungen der römisch-katholischen Kirche zur Kündigung führen.

Warum greift das „Antidiskriminierungsgesetz“ nicht?

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bietet vor religiös begründeter Diskriminierung in der Arbeitswelt keinen Schutz. In § 9 AGG ist festgelegt, dass das Recht der „Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können“, nicht eingeschränkt wird. Damit steht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in der Tradition der in diesen Fragen extrem kirchenfreundlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Grundlage solcher Rechtsauffassungen ist das sog. Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Während in Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (der über Art. 140 Teil des Grundgesetzes ist) noch davon die Rede war, dass jede Religionsgesellschaft „ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze“ ordnet und verwaltet, ist heute viel umfassender von einem Selbstbestimmungsrecht die Rede. Diese „Selbstbestimmung“ findet ihre Grenzen auch nicht in den für alle geltenden Gesetzen, wie zum Beispiel die Ausnahmeregelung hinsichtlich des Betriebsverfassungsgesetzes illustriert. Durch die Vorherrschaft konservativer und kirchenfreundlicher Juristen wird der Verfassungstext heute so interpretiert, dass den Kirchen in vielen Bereichen die Rolle eines Staates im Staat zukommt. So legitimieren Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht vor allem die Diskriminierung von Konfessionslosen in der Arbeitswelt.

Die jüngste Rechtsprechung auf europäischer Ebene könnte hier zu einer Veränderung führen.

Stellen Kirchen und kirchliche Träger nicht dennoch Nicht-Christen oder Konfessionslose an?

In Einzelfällen, wenn Bedarf bestand, war dies schon immer der Fall. Grundsätzlich stellen katholische Einrichtungen heute auch evangelische Christen an und umgekehrt. Außerdem sind die Kirchen in Regionen, in denen es nur wenige Christen der eigenen oder anderer Konfessionen gibt, darauf angewiesen, Menschen anderen Glaubens oder Konfessionslose einzustellen.

In den letzten Jahren, auch unter dem Eindruck der Debatte um das kirchliche Arbeitsrecht, gab es verstärkt Überlegungen, auch Muslime anzustellen.

Was ist unter „Dienstgemeinschaft“ zu verstehen?

Nach Vorstellung der Kirchen arbeiten alle in einer kirchlichen Einrichtung Tätigen nach dem Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft, sie werden Dienstnehmer genannt. Dienstnehmer haben keine Arbeitgeber, sondern Dienstgeber. Man geht davon aus, dass Dienstgeber und Dienstnehmer einen gemeinsamen Auftrag haben, nämlich die Verkündigung des christlichen Glaubens. Daraus wird realitätsfremd auch gefolgert, dass es keinen Widerspruch in den Interessen von Dienstgebern und Dienstnehmern geben kann.

Was ist der „Dritte Weg“?

Aus dem Bild der christlichen Dienstgemeinschaft wird der „Dritte Weg“ als spezifisch „kircheneigenes System der Arbeitsrechtfindung“ abgeleitet. Dem Anspruch nach stellt er eine eigene Form der Sozialpartnerschaft dar und tritt zur einseitigen Festlegung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen („erster Weg“) und dem Abschluss von Tarifverträgen („zweiter Weg“) hinzu.

Da man sich als Gemeinschaft und Sozialpartnerschaft mit gemeinsamem christlichen Auftrag versteht (nämlich der Verkündigung des Wort Gottes, Feier des Gottesdienstes und tätige Nächstenliebe) werden Streiks, aber auch Aussperrung als im Widerspruch zur Dienstgemeinschaft stehend betrachtet. So schreibt die evangelische Kirche von Westfalen: „Der gemeinsame christliche Auftrag an alle kirchlich-diakonischen Beschäftigten, Hilfebedürftige zu unterstützen, darf nicht durch Arbeitskampfmaßnahmen unterbrochen werden.“ (Pressemitteilung vom 3.3.2010). Man ist der Meinung, dass Arbeitskampfmaßnahmen dem kirchlichen Verständnis von friedlicher Konfliktlösung widersprechen.

Der Widerspruch in den Interessen von Arbeitgebern (Dienstgebern) und Arbeitnehmern (Dienstnehmern) wird geleugnet.

Gibt es einen Betriebsrat in kirchlichen Einrichtungen?

Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz regelt in § 118, Abs. 2, dass es in kirchlichen Einrichtungen keine Anwendung findet (das Betriebsrätegesetz von 1920 kannte diese Einschränkung nicht). Folglich gibt es in der Bundesrepublik in kirchlichen Einrichtungen keinen Betriebsrat. Lediglich in Gewerbebetrieben in kirchlichem Besitz (z.B. Brauereien) ist die Gründung eines Betriebs- bzw. Personalrates möglich. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1960er Jahren sahen sich die Kirchen jedoch gezwungen, auch ihren Beschäftigten Mitspracherechte einzuräumen. So wurden „Mitarbeitervertretungen“ eingeführt, die ähnliche Funktionen wie Betriebsräte übernehmen.

Werden kirchliche Sozialeinrichtungen durch die Kirchen finanziert?

Eigentlich ist bereits die Formulierung „kirchliche Sozialeinrichtung“ irreführend. Das Sozialsystem in Deutschland kennt neben staatlichen und privatwirtschaftlichen Sozialeinrichtungen noch jene in freier Trägerschaft. Durch das Subsidiaritätsprinzip wird diesen Vorrang eingeräumt; in der Praxis heißt das, dass zum Beispiel die Kommune nicht tätig werden darf, wenn ein freier Träger den neuen Kindergarten im Ort betreiben möchte. Die kirchlichen Sozialkonzerne Caritas und Diakonie sind die größten freien Sozialträger. Wenn sie den Zuschlag für einen Kindergarten, ein Krankenhaus oder ein Altenheim erhalten, wird dieses dann in „kirchlicher Trägerschaft“ betrieben.

Mit der Finanzierung der sozialen Dienstleistung hat der Träger wenig zu tun. Bau- und Investitionskosten übernimmt in der Regel der Staat. Die Kosten für den laufenden Betrieb werden aus den Zuwendungen der Sozialkassen (z.B. Krankenhaus, Rettungsdienst) oder den Zahlungen der „Kundschaft“ (z.B. Altenheim) bestritten. Sehr viele „kirchliche Sozialeinrichtungen“ werden folglich zu 100% aus öffentlichen Mitteln finanziert. In einigen Bereichen muss sich der Träger finanziell beteiligen (z.B. Kindergärten). Nur wenige Einrichtungen werden nicht oder nur zu einem geringen Teil aus öffentlichen Mitteln finanziert (z.B. bestimmte Beratungseinrichtungen).

Insofern nimmt die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den Mund ziemlich voll, wenn sie zur Verteidigung des kirchlichen Arbeitsrechts anführt: „Wo Kirche drauf steht, muss auch Kirche drin sein“. In finanzieller Hinsicht sind die meisten „kirchlichen Sozialeinrichtungen“ nämlich keine kirchlichen Einrichtungen.

Erfolge?

Tatsächliche Erfolgsmeldungen in Bezug auf den Abbau religiöser Diskriminierung in Deutschland gibt es bisher nicht.

Obwohl die Zahlen der Gläubigen beider Konfessionen stetig sinken, sorgt die vielfältige Verquickung von Staat und Kirche für einen äußerst wirksamen Lobbyismus zu Gunsten von Diakonie und Caritas.

Schon seit 1919 vermeidet die Politik, dem verfassungsrechtlichen Auftrag nachzukommen und die Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen (siehe 100 Jahre Verfassungsbruch).

Das Betriebsverfassungsgesetz, mit seinen Ausnahmeregelungen für religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften, stammt aus dem Jahr 1952 und auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 ermöglicht den Kirchen weiterhin diskriminierende Regelungen im Arbeitsrecht zu erlassen.

Geht doch einmal eine juristische Auseinandersetzung so weit, dass eine grundsätzliche Klärung in Aussicht steht, greifen die kirchlichen Arbeitgeber in die gut gefüllten Kassen und streben außergerichtliche Vergleiche an. Das schafft starke persönliche Anreize für klagende Mitarbeitende, das nervenaufreibende Verfahren mit seinen hohen finanziellen Risiken frühzeitig zu beenden.

    Erfolge hatten zwei Klagen vor dem europäischen Gerichtshof, der das kirchliche Arbeitsrecht in den konkreten Fällen als verbotene Diskriminierung wertete. Ob und wie das die deutsche Rechtsprechung verändert, bleibt allerdings abzuwarten.

    Als Erfolg sehen wir auch, wenn Kommunen ihre Steuerungsmöglichkeiten nutzen, zum Beispiel über die Vergabe von Trägerschaften, um religiöse Diskriminierung mit Hilfe von Steuergeldern zu verhindern.

    Und persönliche Erfolge haben zunehmend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich gegen selbst erlebte Ungerechtigkeit wehren. In vielen Fällen scheuen die Arbeitgeber den öffentlichen Konflikt, denn längst ist klar, dass es in der Gesellschaft kaum noch als legitim empfunden wird, was durch den „dritten Weg“ im kirchlichen Arbeitsrecht legal möglich ist.

Wegweisende Urteile

Darauf zu warten, dass die Kirchen die bestehenden Diskriminierungen von sich aus beenden, widerspricht der historischen Erfahrung:

Noch nie in der deutschen Geschichte haben Kirchen Privilegien freiwillig und aus Einsicht aufgegeben.

Darum scheint der beste Weg zu sein, bei jeder sich bietenden Gelegenheit über den Klageweg juristische Klärungen anzustreben. Dabei gab es bereits Teilerfolge.

    Rechtsexperten begrüßen das heutige Urteil des EuGH

    „Der Anfang vom Ende des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland!“

    Ingrid Matthäus-Maier, Sprecherin von GerDiA

    Die Rechtsexperten des Instituts für Weltanschauungsrechts (ifw) begrüßen das heutige (11.09.2018) Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), das die Kündigung eines Chefarztes wegen „fehlender Loyalität“ zur katholischen Kirche als verbotene Diskriminierung nach Art. 21 der Charta der Europäischen Union gewertet hat. Ingrid Matthäus-Maier, ehemalige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Mitglied im ifw-Beirat und Sprecherin der „Kampagne gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz“, bezeichnete das Urteil als „Anfang vom Ende des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland“.

    Wörtlich sagte Matthäus-Maier: „Endlich hat der Spuk ein Ende! Die Kirchen haben nie freiwillig auf ihre Privilegien verzichtet, sondern nur, wenn die Gerichte sie dazu gezwungen haben. Die Kirchenverantwortlichen haben nicht aus der Vergangenheit gelernt und stets nur millimeterweise nachgegeben – nun müssen sie ein ganzes Jahrhundert an Emanzipationsbewegung nachholen. Die Politik hat sich seit Jahren davor gedrückt, die 1,2 Millionen Beschäftigen von Diakonie und Caritas vor religiöser Diskriminierung zu schützen. Stets hieß es in Berlin, dies müsse die Kirche selbst lösen, doch dieses Argument hat spätestens durch das heutige Urteil seine Gültigkeit verloren.“

    Matthäus-Maier kritisierte in ihrer Stellungnahme, die sie im Namen des Instituts für Weltanschauungsrecht abgab, dass sich die Kirchen noch immer darauf berufen, dass für ihre Mitarbeiter Sonderregeln gelten müssten. „Aber“, so Matthäus-Maier, „Ärzte sollen heilen und nicht missionieren! Das hat die Kirche bis heute nicht verstanden. Deshalb muss der Gesetzgeber aktiv werden. Die bisherige Passivität der Politik ist unerträglich. Es ist den Angestellten der Kirchen nicht zumutbar, sich einzeln durch die Instanzen zu klagen, um zu ihrem Recht zu kommen. Das kirchliche Arbeitsrecht muss abgeschafft und Diakonie und Caritas endlich behandelt werden wie jeder andere Wohlfahrtsverband auch!“ Es dürfe auch nicht sein, dass in ganzen Regionen Krankenhäuser und Kitas zu 50, 60 oder noch mehr Prozent in kirchlicher Trägerschaft seien. Denn dann bestehe „keine echte Wahlfreiheit – weder für die Mitarbeiter noch für die Bürgerinnen und Bürger, die auf soziale oder medizinische Dienstleistungen angewiesen sind.“

    Matthäus-Maier wertete die Entscheidung des EuGH auch als einen Erfolg der Kampagne „Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz“, die seit 2012 die Missstände im kirchlichen Arbeitsrecht kritisiert. Das Thema wurde nicht zuletzt dank dem Einsatz der ehemaligen SPD-Spitzenpolitikerin vor einigen Jahren in den Medien breit diskutiert und mit mehreren Sondersendungen in Rundfunk und Fernsehen bedacht. „In der Politik haben unsere Argumente, die in der Bevölkerung stets auf große Zustimmung trafen, leider kaum Wirkung gezeigt“, meinte Matthäus-Maier, „umso mehr freue ich mich deshalb darüber, dass die Richter am EuGH den eklatanten Widerspruch zu Art. 21 der Charta der Europäischen Union erkannt haben, auf den wir schon seit vielen Jahren hinweisen.“

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