Im Sommer 1918 begingen deutsche Soldaten in der besetzen Ukraine ein Massaker an sowjetischen Soldaten. Über ein heute nahezu unbekanntes Kriegsverbrechen.
»Eine Gluthitze war’s, als wir am 11. Juni 1918 nach 36stündiger Fahrt in einem russischen Kohlenzug in Taganrog ausgeladen wurden. Taganrog? Wo liegt Taganrog?« So erinnerte sich zehn Jahre später ein ehemaliger Soldat in der sozialdemokratischen Tageszeitung Der Abend. »Was hatten wir da unten in Südrussland am nördlichen Ufer des Asowschen Meeres zu suchen? Das fragten wir uns immer wieder, denn mit Russland hatten wir schon längst Frieden geschlossen«.
Das eigene Grab schaufeln
»Kaum hatten wir das Essen eingenommen, ging’s zur Stadt hinaus. Nicht lange, und die ersten feindlichen Granaten schlugen in unserer Nähe ein. Bald wurden wir auch vom Meer aus von kleinen Schiffen beschossen. Drei Tage dauerte das Gefecht, das uns ziemliche Verluste kostete. Dann brannte die ganze Gegend lichterloh. Eine riesige Rauchsäule am nächtlichen Himmel. Der Gegner war geschlagen, zum Teil geflüchtet, zum Teil ins Meer gedrängt, zum Teil gefangen. 180 Gefangene, meist Leute aus dem Don- und Kubangebiet, in schlechter Ausrüstung und anscheinend in aller Eile von der russischen Regierung aus den verschiedensten Truppenteilen zusammengestellt. Als wir dann erfuhren, dass alle Gefangenen erschossen werden sollten, kannte unsere Empörung keine Grenzen. Ein anderer Teil unserer Kameraden war allerdings gleichgültig, wieder andere fanden das selbstverständlich. Es sei eben Krieg. 180 Gefangene! An dem ziemlich steil ins Meer abfallenden steinigen Ufer mussten dann die Bedauernswerten mit unseren kurzen Infanteriespaten sich auch noch das eigene Grab schaufeln.
Dann wurden immer zehn Mann geholt. Mit dem Gesicht zur Grubenöffnung mussten sie sich an den Grubenrand stellen. Die Gefangenen bekreuzigten sich einige Male, dann krachte die Salve. Die Henker standen ganz dicht hinter ihnen und schossen in die Hinterköpfe. Einigen zerplatzten die Schädel, anderen flogen die Mützen in die Luft, dann plumpsten sie, Gesicht auf die Erde, in die Grube. Dann kamen die Nächsten an die Reihe. Sie mussten sich ebenfalls auf den Grubenrand stellen und sahen ihre toten Kameraden vor sich in der Grube liegen. (…) So geht das weiter, bis die Grube voll ist. Zuckte noch einer, bekam er einen Fangschuss.«¹
Was wollte die Reichswehr im Sommer 1918 in Südrussland? Zwar hatte Deutschland 1914 noch vorgegeben, einen Verteidigungskrieg gegen Russland zu führen, zielte aber gleichzeitig auf eine »Dekomposition des russischen Reiches« durch Förderung nationalistischer, autonomistischer und separatistischer Bestrebungen bei Finnen, Esten, Letten, Litauern, Polen, Weißrussen, Ukrainern und Krimtataren. Schon 1916 wurde von der Obersten Heeresleitung mit dem Gebiet »Ober Ost« ein deutsches Einflussgebiet in Polen und im Baltikum errichtet – Herzog Wilhelm aus der Uracher Seitenlinie des Hauses Württemberg etwa sollte als Mindaugas II. König von Litauen werden und lernte im Sommer 1918 Litauisch.
Deutsches Ostimperium
Mit dem Vertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 vollendete das Deutsche Kaiserreich nicht nur diese Desintegration, sondern brachte die russischen Provinzen Weißrussland und Ukraine unter seine Kontrolle. Der Oberbefehlshaber Paul von Hindenburg errichtete ein System deutscher Vasallen- und Klientelstaaten, ein riesiges Kolonialreich im Osten. Die Ukraine als das industrielle und landwirtschaftliche Herz des Zarenreichs sollte auch das Zentrum dieses Kolonialreichs werden, als Kornkammer das hungernde Deutschland und mit seinen Kohle-, Mangan- und Eisenerzvorkommen im Donezbecken die Rüstungsindustrie versorgen. In dem »Frisierbefehl« vom 7. Mai 1917 hatte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg allerdings alle Behörden angewiesen, den deutschen Herrschaftsanspruch unter dem Begriff »Autonomie« zu verschleiern.²
Als der Historiker Fritz Fischer in seinem Buch »Griff nach der Weltmacht« 1961 diese Kriegsziele akribisch nachzeichnete, löste er mit der »Fischer-Kontroverse« eine der großen Geschichtsdebatten aus, denn die Darstellung der Kontinuität von Eliten und Kriegszielen hin zum »Dritten Reich« galt ebenso als Nestbeschmutzung wie das 2002 erstmals erschienene Buch des US-Historikers Vejas Gabriel Liulevecius über die Kontinuitäten hin zur Ostpolitik der deutschen Faschisten.
Die von der 1917 gebildeten ukrainischen »Zentralrada« (Rat, Sowjet) ausgerufene »Volksrepublik« schloss im Februar 1918 den »Brotfrieden«, legitimierte die deutsche Besetzung und versuchte, durch Geheimabsprachen eine gewisse Autonomie zu retten, konnte aber die zugesicherten gewaltigen Getreidemengen nicht liefern. Schon im Mai 1918 ersetzten die Besatzer die Rada durch einen Marionettenstaat unter dem »Kosakenhetman« Pawlo Skoropadski, der bei den Bauern noch unbeliebter war, da er nicht nur Getreide und Vieh gewaltsam requirierte, sondern auch den adligen Großgrundbesitz restaurierte, den die Bauern nach der Revolution aufgeteilt hatten. Für den Widerstand gegen die Besatzer wurden von den Militärs allerdings die Juden als »Haupthetzer« verantwortlich gemacht. Strafexpeditionen des Hetmans und der deutschen Besatzungstruppen sollten die lokalen Aufstände durch Massenerschießungen und das Niederbrennen ganzer Dörfer brechen. Selbst das XXVII. Reservekorps beklagte, dass sich die Deutschen »wie im Feindesland benehmen und rücksichtslos den Einwohnern das Letzte wegnehmen«. Häufig Opfer von Plünderungen, bald auch von Pogromen, war die jüdische Minderheit.
Keine Gefangenen
Das Deutsche Reich verfolgte aber noch weitergehende Ziele. Es besetzte im Sommer 1918 die Krim, um Zugriff auf den (sowjet-)russischen Schwarzmeerhafen Sewastopol und die dort ankernde Flotte zu erlangen. Dem Stellvertreter Hindenburgs, Erich Ludendorff, schwebte eine »völkische Politik« vor, die Besiedlung eines Krimstaates mit deutschen Kolonisten – ein Konzept, das später Hitler und Himmler inspirierte.³
Soldaten der Roten Armee wurden seit Februar 1918 nicht mehr entsprechend der Kriegsordnung behandelt, da man diese »Banditen nicht als Soldaten, sondern als Räuber und Mörder« betrachten müsse. Obwohl die Ermordung von Großgrundbesitzern, Adligen und zaristischen Offizieren meist eher Racheaktionen der ausgeplünderten bäuerlichen Bevölkerung darstellten, verloren die deutschen Standesgenossen jegliche Skrupel: »The shooting of individual Bolsheviks or whole groups was a daily occurrence throughout the occupation.«⁴ Verhaftungen mit nachfolgenden kriegsgerichtlichen Verfahren würden nur als Schwäche ausgelegt, und gegen die Einwohner sei »rücksichtslose Strenge« geboten. Das Korps Knoerzer befahl, »Bolschewisten« als Feinde nach dem Kriegsrecht zu behandeln. Nach damaliger Wortwahl bedeutete dies die sofortige Exekution der Gefangenen. Und »Bolschewik« war eben jeder, der Widerstand leistete. Als der USPD-Abgeordnete Georg Ledebour diese Praktiken am 19. März 1918 im Reichstag zur Sprache brachte, wurde er »von rechts« ausgelacht und vom Vizepräsidenten Hermann Paasche zur Ordnung gerufen, da er »Undenkbares« behaupte.
Die an den Gefechten bei Taganrog beteiligte 1. Bayerische Kavalleriebrigade präzisierte diese Befehle: Alle Leute seien »sofort zu erschießen, welche mit der Waffe in der Hand betroffen werden, sonstigen bedrohlichen Widerstand leisten oder Waffen nach der Aufforderung zur Ablieferung noch verbergen sowie bei allen verräterischen Handlungen. Mit Verhaftungen ist wenig gedient, sie sind möglichst zu vermeiden.«
Bei Vormarsch auf die Krim und während der Kämpfe um die Landenge von Perekop zwischen dem 17. und 19. April 1918 wurden daher alle fliehenden »barbarischen und verräterischen Feinde« von dieser Kavalleriebrigade niedergemacht. Dies habe sich außerordentlich bewährt, da so Angst und Schrecken beim Gegner verbreitet worden seien.⁵
»Der Tod hielt reiche Ernte«
Nach der Eroberung von Rostow durch deutsche Truppen setzten am 10. Juni 1918 eilig zusammengestellte und schlecht ausgerüstete Truppen der neu gegründeten »Roten Armee« bei Taganrog zwischen Mariupol und Rostow mit Booten und Schiffen über das Asowsche Meer und versuchten, die Deutschen zurückzudrängen. Doch gelang es der Reichswehr, mit der Bahn schnell Verstärkung und vor allem Artillerie und Kavallerie heranzuführen, darunter die Ludwigsburger Ulanen, in deren Regimentsgeschichte berichtet wird:
»Die im rechten Moment ankommenden Verstärkungen aus eigener Infanterie warfen den angreifenden Gegner auf seine Angriffsstellung zurück und drängten ihn gegen Abend und im Laufe des nächsten Tages immer mehr gegen seine Ausladepunkte an der Küste. Verzweifelt wehrten sich die Desperados, deren Reiter, 60 an der Zahl, in kühner Attacke den Durchbruch zur Flucht riskierten. Bis zu Leitung ›Süd‹ durchdringend, fielen die letzten von den Karabinern der Ulanen niedergeschossen. In einem Gehölz an der Landungsstelle zusammengepfercht, versuchten Tausende die Flucht auf Flößen und Fischerseglern, die von Artillerie, M. G. und Schützen mit Feuer überschüttet wurden, wollten auf ihren Pferden im seichten Meere der Steilküste, die Tod und Verderben spie, entlang reitend, an unbewachter Stelle das rettende Ufer erreichen. Vergebens. Der Tod hielt reiche Ernte. Ein Schlachten war’s, nicht eine Schlacht zu nennen, dem die Nacht ein Ende setzte. Der Rest mit einer Anzahl von Weibern ergab sich auf Gnade und Ungnade, welch letzterer alle, da Pardon weder verlangt noch gegeben wurde, im Feuer von M. G. fielen. Von den 10.000 gelandeten Bolschewiken sind wohl kaum 1.000 Mann, diese meistens verwundet, entkommen. Die Beute betrug sieben Geschütze, viele M. G.s, Massen von Gewehren und Munition auf den Transportschiffen, von denen neun nicht mehr vom Lande abkamen, und sonstiges Kriegsmaterial aller Art.«
So heißt es in der im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufbewahrten Regimentsgeschichte des Ulanen-Regiments Nr. 20 »König Wilhelm I.«, in der von 6.000 erschossenen und erschlagenen Gegnern die Rede ist, bei 39 eigenen Verlusten. Russische Quellen sprechen zudem von 70 Krankenschwestern, die durch Abtrennen von Körperteilen und Ausstechen der Augen gefoltert und dann erschossen wurden, sowie von 500 Zivilisten.⁶
Wie nach den Massakern im Boxerkrieg wurden die Kriegsverbrechen in der Ukraine durch Feldpostbriefe beteiligter Soldaten bekannt, die von mehr als 2.000 erschossenen Gefangenen, darunter auch Frauen und Kinder, berichteten. Die Oberste Heeresleitung verlangte daraufhin Informationen. In einem ausführlichen Bericht gab Oberst Arthur Bopp, Kommandeur der 52. (Württembergischen) Landwehr-Infanterie-Brigade, an, die Erschießung der Gefangenen am 14. Juni schriftlich angeordnet zu haben.
Der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) kritisierte am 6. Juni 1918 im interfraktionellen Ausschuss des Reichstag, dem Berichte der Einheiten vorzulegen waren, die deutsche Politik im Osten. Ebert verwies auf Taganrog, allerdings ohne Einzelheiten zu nennen und ohne das Massaker wie angedroht öffentlich zu machen.⁷ Oberst Arthur Bopp wurde jedenfalls noch am 8. November 1918 zum Generalmajor befördert und nach seinem Tod 1928 in einem Ehrengrab auf dem Pragfriedhof in Stuttgart beigesetzt. Das Massaker wurde nie untersucht, niemand wurde belangt.
Die Stationierung in den Gebieten der Russischen Revolution, wo sich deutsche Soldaten auch nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November 1918 aufhielten – in Artikel XII der Waffenstillstandsbedingungen war festgehalten worden, dass die Truppen erst dann »die vor dem Kriege zu Russland gehörigen Gebiete« verlassen sollten, »sobald die Alliierten, unter Berücksichtigung der inneren Lage dieser Gebiete, den Augenblick für gekommen erachten« – blieb nicht ohne Einfluss auf die deutschen Soldaten. Im November begannen sie, Soldatenräte zu bilden, ausgehend von den Hafenstädten an der Ostsee. Auch in der Ukraine beklagten die Offiziere »die Neigung der Soldatenräte, sich mit den Sowjettruppen und dem bolschewistisch gesinnten Teil der Bevölkerung«, also vor allem den Arbeitern der Industriezentren im Donbass, »freundschaftlich zu stellen«. Mehr und mehr weigerten sich die Soldaten, gegen »die Roten« zu kämpfen: »Die radikale Einstellung der Arbeitermassen in den Groß- und Küstenstädten färbte auf die Truppe ab, um so mehr, als diese selbst marxistisch angekränkelten Bevölkerungsschichten entstammte.«⁸
In der Hafenstadt Nikolajew (Mikolajiw) am Schwarzen Meer, dem letzten deutschen Posten im Osten, verbrüderten sich deutsche Soldaten am 22. Januar 1919 mit ukrainischen Demonstranten, die gegen die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf die Straße gingen, statt auf sie zu schießen, und ließen Vertreter des örtlichen Sowjets in einer Soldatenversammlung sprechen.⁹
Die Idee, trotz des verlorenen Kriegs einen Teil des Ostimperiums halten zu können, erwies sich als illusionär. Die Soldaten erzwangen ihre Rückkehr. Dies galt aber nicht für alle. So wie sich bei Taganrog auch Soldaten gefunden hatten, die sich für die Erschießungskommandos freiwillig meldeten, glaubten manche, den Krieg im Baltikum fortsetzen zu können. Artikel XII der Waffenstillstandsvereinbarungen vom November 1918 ermöglichte die Aufstellung von Freikorps als »Grenzschutz Ost«, die im Baltikum gegen die neu gebildeten Sowjetregierungen und häufig auch die einheimische Bevölkerung kämpften. 3.000 bis 6.000 Menschen fielen bei der Eroberung von Riga dem Terror zum Opfer, der als Verteidigung der »Kultur der ganzen Welt« präsentiert wurde.¹⁰ »Wir erschlugen, was uns in die Hände fiel, wir verbrannten, was brennbar war«, schrieb Ernst von Salomon, später einer der Attentäter auf Außenminister Walther Rathenau. »Wo es zum Zusammenstoß kam, wurde es eine Metzelei bis zur restlosen Vernichtung«, berichtete Rudolf Höß, der spätere Kommandant von Auschwitz, über das Wirken jener Landsknechte, die zur Keimzelle des deutschen Faschismus wurden.¹¹
Vorspiel zum Vernichtungskrieg
Was im Ausland als »by far the greatest German mass crime during the whole period of occupation« betrachtet wird, behandelte die (west-)deutsche Geschichtsschreibung bestenfalls als Fußnote der Geschichte im Rahmen der »Befreiung der Ukraine vom Bolschewismus«.¹²
Auch nach den Veröffentlichungen Fritz Fischers wurde die deutsche Eroberungspolitik im Osten noch als Schaffung einer Sicherheitszone gegenüber Russland, dem Schutz vor bolschewistischer Agitation oder als Unterstützung von Autonomiebestrebungen gerechtfertigt. Die Kontinuitäten in der imperialistischen Politik Deutschlands von den Kolonialkriegen in China und Afrika über jene des Ersten Weltkriegs bis hin zum Zweiten Weltkrieg wurden (und werden) eher vermieden.
Dabei gleicht das 1928 im Abend geschilderte Verbrechen jenem deutscher Soldaten im »Boxerkrieg« 1900, wo Chinesen mit zusammengebundenen Zöpfen hingerichtet und in von ihnen selbst ausgehobene Gräber geworfen wurden.¹³ Ja, es gleicht mehr noch den Praktiken im »Vernichtungskrieg« gegen die Sowjetunion 1941, die Hannes Heer in einer wichtigen Wanderausstellung in ganz Deutschland dokumentiert hat, waren doch das Ausheben der Massengräber und die Exekutionen von Soldaten fotografiert worden.
»Die ersten zehn mussten sich neben den Graben stellen und bis zur Hüfte ausziehen. Wir, die wir sie erschießen sollten, standen über ihnen. Zehn Schüsse, zehn Juden waren abgeknallt. Dieses ging weiter, bis alle erledigt waren. Nur wenige von ihnen behielten ihre Fassung. Die Kinder klammerten sich an ihre Mütter, Frauen an ihre Männer.«¹⁴
In den »rassisch minderwertigen« Menschen im Osten sahen Hitler wie sein Mentor Ludendorff »das Dreckszeug aus dem Osten«. Ihre Länder sollten, die Pläne Hindenburgs und Ludendorffs ins Ungeheuerlichste steigernd, deutsche Sklavenstaaten werden. Schon in »Mein Kampf« hatte Hitler gefordert, den Blick nach Osten zu wenden: »Wenn wir (…) in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken.«¹⁵
Im Oktober 1941 beklagte Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, dass »immer noch heimtückische, grausame Partisanen und entartete Weiber zu Kriegsgefangenen gemacht« würden, statt »das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr« für alle Zeiten zu befreien. Die Juden seien »als geistige Führer und Träger des Bolschewismus und der kommunistischen Idee« als Todfeinde »zu vernichten«, aber auch für den größten Teil der slawischen Bevölkerung war im »deutschen Lebensraum im Osten« nur noch der Hungertod vorgesehen. »Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern«, hatte die Konferenz der Staatssekretäre schon vor Kriegsbeginn im Mai 1941 festgestellt. Für die gefangenen Rotarmisten sah man ein »kalkuliertes Massensterben vor, das schon in den ersten Monaten zwei Millionen Opfer forderte. Im Winter ließ man sie einfach unter freiem Himmel verhungern und erfrieren. 1942 lud man vor der Krim 7.000 verwundete sowjetische Kriegsgefangene auf Lastkähne und versenkte sie. Erst als die Kriegswirtschaft unter dem stark zunehmenden Arbeitskräftemangels litt, wurden arbeitsfähige Kriegsgefangene als Arbeitssklaven ins Reich transportiert und auf Märkten und in Kirchen Menschenjagden auf arbeitsfähige Frauen und Männer veranstaltet.¹⁶
Vergessene Opfer
Hannes Heer beklagte stets, dass die deutsche Erinnerungskultur asymmetrisch verläuft: »Sie ist auf den Tod von sechs Millionen Juden zentriert und unterschlägt, trotz der Wehrmachtsausstellung von 1995, immer noch die Opfer des zweiten deutschen Völkermordes den an den sogenannten ›slawischen Untermenschen‹.«¹⁷ Mit Anschlägen haben damals Alt- und Neonazis gegen die Wehrmachtsausstellung gekämpft. Bernd Höcke und die AfD glaubten sich 2017 vor »unsere einst geachtete Armee« stellen zu müssen und beklagten, »Vergangenheitsbewältigung als gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe, die lähmt ein Volk. (…) Recht hatte er, der Franz Josef Strauß! (…) Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!«¹⁸ Dass Höcke in seiner Dresdner Rede vom Januar 2017 Strauß zitiert, ist kein Zufall, wollte der doch schon jenes »Nie wieder!« vergessen machen, um in Deutschland Aufrüstung und Atombewaffnung durchsetzen zu können.
Vor der früheren Reiterkaserne jener Ulanen erinnert in Ludwigsburg heute noch ein Denkmal an die Schlacht von Taganrog, nicht an das Schlachten. Gegenüber beginnt die Hindenburgstraße mit dem Landratsamt, benannt nach jenem Feldmarschall, der mit seinen Plänen eines Ostimperiums die politische Hauptverantwortung für das Massaker trug.
Anmerkungen und Quellen
1 P. F.: Das Gemetzel von Taganrog, Der Abend (Spätausgabe des Vorwärts), 18.6.1928. Mit Dank an Sarah Wefel vom Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung
2 Vgl. Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Neuausgabe, Hamburg 2018, S. 245
3 Vgl. ebd., S. 244
4 Wolfram Dornik, Peter Lieb u. a.: The Emergence of Ukraine. Self-Determination, Occupation, and War in Ukraine, 1917–1922, Toronto 2015, S. 198. »Die Erschießung einzelner Bolschewisten oder ganzer Gruppen gehörte zum Alltag während der Besatzung.«
5 Peter Lieb: Deutsche Herrschaft in der Ukraine 1918/19: Wegweiser zum Vernichtungskrieg? In: Militärgeschichte (2008), H. 4, S. 12
6 Reinhard Nachtigal: Krasnyj Desant. Das Gefecht an der Mius-Bucht. Ein unbeachtetes Kapitel der deutschen Besetzung Südrusslands 1918. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53 (2005), H. 2, S. 238
7 Vgl. ebd., S. 237
8 Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte (Hg.): Darstellungen aus den Nachkriegskämpfen deutscher Truppen und Freikorps, Bd. 1: Die Rückführung des Ostheeres, Berlin 1936, S. 122 u. 39
9 Walter Fest: Mikolajiw, der letzte Posten am Schwarzen Meer, Duisburg 1919, S. 172
10 Liulevicius, a. a. O., S. 285
11 Ebd.
12 Dornik u. a., a. a. O., S. 173
13 Erhard Korn: »Peking muss rasiert werden«, junge Welt, 4.9.2021, S.13
14 Hannes Heer, Klaus Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, S. 114
15 Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, München 1943, S. 742
16 Heer, Naumann, a. a. O., S. 283, 115, 63 u. 128
17 Hannes Heer: Der Stadthaus-Skandal. Rede zum 8. Mai 2019, abrufbar unter: http://www.foerderkreis-stadthaus.de/doc/Heer.pdf
18 Die Rede in Auszügen unter: https://www.hagalil.com/2017/01/hoecke/