Befehl zum Mord

»Nun ist bald Weihnachten. Was für ein entsetzliches Weihnachten. Aber nicht nur für uns, denkt an die vielen Traurigen und Ärmsten«, schrieb der Bildhauer Kurt Schumacher im Dezember 1942 aus dem Gefängnis an seine Mutter. Er fügte hinzu: »Wie oft feierten wir es zusammen. Das Fest des Friedens, der ewigen Sehnsucht der Menschheit; weil wir den Frieden heiß ersehnten, sind wir nun hier.«

Die Hinrichtungen begannen am 22. Dezember um 19 Uhr abends. Im »Dritten Reich« war die Exekution mit dem Fallbeil als moderne, schnelle und effektive Methode durchgesetzt worden. Doch in diesem Fall hatte Hitler für fünf zum Tode verurteilte Männer ausdrücklich die Vollstreckung durch den Strang angeordnet. Anders als in der Literatur zuweilen behauptet, sollten die Opfer damit nicht noch besonders gequält werden. Der Tod trat in der Regel rasch ein; das Erhängen galt jedoch als »unehrenhaft« und sollte die Opfer demütigen.

An diesem Dienstag wurde zuerst der Diplomat Rudolf von Scheliha gehenkt. Im Fünf-Minuten-Takt folgten ihm der Offizier der Luftwaffe Harro Schulze-Boysen, der Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium Arvid Harnack, der Künstler Kurt Schumacher und der Journalist John Graudenz. Danach wurde eine Pause von einer knappen Stunde wohl dafür genutzt, den Tod der Männer ärztlich festzustellen und die Leichen fortzuschaffen.

Die folgende Gruppe von drei Männern und drei Frauen wurde durch das Fallbeil getötet. Um 20.18 Uhr war der erst 19jährige Student Horst Heilmann, ein enger Freund Schulze-Boysens, an der Reihe. Ihm folgten nach jeweils drei Minuten der junge Arbeiter Hans Coppi und der Arbeiter Kurt Schulze, ein ausgebildeter Militärfunker. Zuletzt wurden die Frauen hingerichtet. Die Journalistin Ilse Stöbe, Angestellte im Auswärtigen Amt, starb um 20.27 Uhr. Danach die in der Kulturfilmzentrale tätige Publizistin Libertas Schulze-Boysen und die Künstlerin Elisabeth Schumacher, deren Männer bereits gehenkt worden waren.

Begnadigung ausgeschlossen

Die Mehrzahl der Opfer war drei Tage zuvor vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt worden; gegen Rudolf von Scheliha und Ilse Stöbe war schon am 14. verhandelt worden. Schulze-Boysen und Schumacher wurden wegen »Vorbereitung zum Hochverrat, Kriegsverrats, Zersetzung der Wehrkraft und Spionage« verurteilt, Harnack, Libertas Schulze-Boysen, Elisabeth Schumacher, Hans Coppi und Kurt Schulze wegen »Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Spionage«. Die Strafen beinhalteten ironischerweise den Verlust der »bürgerlichen Ehrenrechte« (wie das aktive und passive Wahlrecht) und für die Männer den Verlust der »Wehrwürdigkeit«. Die Urteile waren nicht anfechtbar, und der reguläre »rechtsförmige« Verlauf mit einer gewissen Frist bis zur Vollstreckung, in der Gnadengesuche zumindest formal geprüft wurden, war durch das Eingreifen Hitlers, der eine Begnadigung ausschloss, radikal abgekürzt worden. Eine Widerstandsgruppe, deren Angehörige bis in die Führungsetagen des Staates vorgedrungen waren und die zudem – mitten im Krieg – militärisch brisante Informationen ans Ausland, vor allem an die Sowjetunion, weitergegeben hatten – das war der größte anzunehmende Unfall für das »Dritte Reich« und wirkte wie ein Schock.

Der ehrgeizige und charismatische Harro Schulze-Boysen war die Führungsfigur dieses Netzes, er hatte zahllose Kontakte geknüpft. Er war am 31. August als erster verhaftet worden. Im Gefängnis schrieb er ein Gedicht, in dem er sein Schicksal kommentierte: »Die letzten Argumente / sind Strang und Fallbeil nicht, / und uns’re heut’gen Richter sind / noch nicht das Weltgericht.« Im seinem Abschiedsbrief an seine Eltern heißt es: »Wenn Ihr hier wärt (…), Ihr würdet mich lachen sehen angesichts des Todes, ich habe ihn längst überwunden. In Europa ist es nun einmal so üblich, dass geistig gedüngt wird mit Blut. Mag sein, dass wir nur ein paar Narren waren, aber so kurz vor Toresschluss hat man wohl das Recht auf ein bisschen ganz persönliche historische Illusion.« Er betonte: »Alles, was ich tat, tat ich aus meinem Kopf, meinem Herzen und meiner Überzeugung heraus.« Kurt Schumacher erklärte: »Ich habe getan, was ich konnte, bis zuletzt, und falle für meine Idee, nicht für eine fremde, feindliche. Ich weiß, dass meine, unsere Idee siegt, wenn auch wir, die kleine Vorhut, fallen.« Seine Frau hob hervor, »dass wir (…) unserer besten Überzeugung folgten unter Hintanstellung von Sicherheit, Ruhe, Bequemlichkeit.«

54 Todesurteile

Die elf Hinrichtungen waren weder Beginn noch Ende der barbarischen Rache der Nazis an ihren Gegnern der sogenannten »Roten Kapelle« in Deutschland. Der Journalist John Sieg und der Lehrer Hermann Schulz hatten sich schon im Oktober in der Haft selbst getötet. Albert Hößler, ein vom sowjetischen Geheimdienst abgesetzter Fallschirmagent, wurde während der Vernehmungen ermordet. Leuten wie ihm wurde nicht einmal ein formales »Recht« des NS-Staates zugebilligt, sie waren vogelfrei. Der ebenfalls am 19. Dezember wegen »Verrats militärischer Geheimnisse« zum Tode verurteilte Oberleutnant Herbert Gollnow wurde im Februar 1943 auf dem Schießplatz Tegel erschossen und erlitt damit – wiederum auf Befehl Hitlers – als einziger Mann der Gruppe die übliche militärische, also »ehrenvolle« Tötung. Erika von Brockdorff und die US-Amerikanerin Mildred Harnack, Ehefrau Arvids, waren beim selben Termin zu Zuchthausstrafen verurteilt worden. Hitler annullierte den seiner Meinung nach zu milden richterlichen Spruch unverzüglich und veranlasste, dass in einem zweiten Prozess ebenfalls die Todesstrafe über beide Frauen verhängt wurde. Insgesamt wurden gegen die der »Roten Kapelle« zugerechneten Antifaschisten in Deutschland nach bisheriger Erkenntnis 54 Todesurteile vollstreckt.

Mangelhafte Aufarbeitung

Die historische Aufarbeitung dieses Teils des antifaschistischen Widerstands lässt leider bis heute zu wünschen übrig. Deutsche Historiker haben sich in den Jahren seit 1990 vorwiegend mit Detailfragen und den ideologischen Problemen der Darstellung der »Roten Kapelle« in der Bundesrepublik und in der DDR beschäftigt. Zudem sind Biographien einzelner »Stars«, wie Harro und Libertas Schulze-Boysen, Mildred Harnack, Ilse Stöbe, Adolf Grimme sowie der Tänzerinnen Oda Schottmüller und Hanna Berger, erschienen. Die zusammenfassende Publikation der US-amerikanischen Autorin Anne Nelson, »Die Rote Kapelle« (dt. 2010) befriedigt jedoch ebenso wenig wie die – über weite Strecken haarsträubend naive – letzte Neuerscheinung zum Thema (»Mil­dred Harnack und die Rote Kapelle in Berlin«, Potsdam 2017), eine Kollektivprojektarbeit von Schülern einer Berliner Abendschule und Studenten der Universität Potsdam.

Bis heute wird u. a. darüber gestritten, ob die von der Gestapo zunächst für westeuropäische Agentengruppen geprägte Bezeichnung »Rote Kapelle« zulässig ist, obwohl sie sogar von prominenten Überlebenden der Gruppe, wie Greta Kuckhoff, Heinrich Scheel und Elfriede Paul, übernommen wurde. In der DDR war lange Zeit die sperrige Formel »Schulze-Boysen/Harnack-Organisation« üblich, die sich aber nicht durchsetzen konnte, zumal in diesem Zusammenhang stets die »führende Rolle der KPD« betont wurde. Der Anteil der Kommunisten war in der Tat beachtlich. Von den elf vor Weihnachten Hingerichteten waren mindestens acht in ihrer Weltanschauung stark kommunistisch geprägt. Gemeinsam war den meisten auch eine positive Einstellung zur Sowjetunion. Deren Außenpolitik erregte die Bewunderung Schulze-Boysens, der extra Russisch gelernt hatte. »Die Methoden Stalins waren immer sehr realpolitisch«, lobte er 1942. Und Walter Husemann schrieb in seinem Abschiedsbrief im Mai 1943 an seinen Vater: »Besser für die Sowjetunion zu sterben als für den Faschismus zu leben!«

Der Name „Rote Kapelle“ stammte von den Nationalsozialisten selbst – zunächst ein Sammelbegriff der deutschen Militärabwehr für diverse Gruppen, die unter Verdacht standen, als Spione für den sowjetischen Nachrichtendienst zu arbeiten und einem westeuropäischen Spionagenetzwerk anzugehören. Später bezeichneten die Nazis mit „Roter Kapelle“ auch verschiedene linksintellektuelle Gruppen in Berlin.

Anmerkungen und Quellen

Deutschlandfunk

bpb

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