Abschied von der SPD
Ich war aus der SPD bereits 2010 ausgetreten. Mein Parteibuch hatte ich in einem kleinen, braunen Briefumschlag, auf dem Weg ins Willy-Brandt-Haus abgeschickt. Nein, es ist nicht wegen der Vorratsdatenspeicherung. Auch wenn das ein guter Grund wäre. Nein, es ist nicht wegen des desaströsen Wahlkampfs und des immer noch ausstehenden und wohl nie kommenden kritischen Auseinandersetzens damit. Auch wenn das ein guter Grund wäre. Nein, es ist nicht wegen der Großen Koalition und des Postengeschachers, das der Parteivorstand unbedingt durchsetzen will. Auch wenn das ein guter Grund wäre. Nein, ich konnte nicht bis zur Abstimmung zur GroKo warten. Ja, es ist definitiv.
Damalig war ich sehr traurig darüber, zu gehen, aber die letzten Wochen, viele Stunden Gespräche mit klugen Menschen und noch mehr Stunden Reflexion und Überlegungen ließen keinen anderen Schluss zu: Ich war politisch ausgebrannt, war und bin es bis Heute emotional mit dieser Partei am Ende und ich kann das alles in meinem Wertesystem nicht weiter tragen bzw. ertragen.
Ich schrieb ein wissenschaftliches Papier, in dem ich Habitus und Macht in Parteien untersuchte, und auch hier in der SPD aufdeckte, wie bestimmte Strukturen innerhalb der Partei den Prozess zu mehr Diversität auf allen Ebenen behinderten. Auf Bitte von Andrea Nahles schickte ich ihr dieses Paper auch zu. Ich führte unzählige Gespräche mit vielen Personen, auf verschiedensten Ebenen, ich rieb mich intern und extern auf. Was für mich blieb, war die Erinnerung an das Gespräch mit Justiziaren und Justiziarinnen aus dem Willy-Brandt-Haus, die uns sagten, ja, die Vorschläge, ja, die wären ja ganz gut, und manches würde Sigmar Gabriel sicher gut finden, aber wir sollen doch bitte nicht ernsthaft denken, dass davon was umgesetzt werden würde. Von Andrea Nahles hörte ich nie wieder etwas.
Nicht nur Schröders SPD Umschwung zur neoliberalen Partei mit seiner Agenda 2010 Politik, die er politisch zur Mitte gerückt hatte, sondern auch sein Nachfolger Sigmar Gabriel und die Parteirechten wie z.B. die Seeheimer, die Netzwerkaktivisten führten diese Linie kompromisslos fort, da ist irgendwas in mir zerbrochen.
Der Abschied vom Sozialismus, von der Sozialdemokratie, die einer Erosion gleich kommt, ja, ich nehme das persönlich. Und ich nehme persönlich, dass die Partei diese Karriere geilen Schmarotzer, das sie diese Menschen nach wie vor mitträgt. Dieses System von Klüngelei, wo Wahlkampfjobs nicht nach Fähigkeit, sondern nach Buddy Schaft vergeben werden. Wo private Agenturen und Unternehmen mit Parteimitgliedschaften verschmelzen. Dieses System von Parteivorsitzenden, die sich von jungen sozialistischen Männern und Frauen so bedroht fühlen, dass sie ihnen einfach pauschal unterstellen, dass sie keine Ahnung von politischen Prozessen im Allgemeinen, weil sie die GroKo ablehnen, und von innerparteilichen Prozessen im Speziellen hätten, weil sie Vorwahlen für die Kanzlerkandidatur fordern. Ich hab die Schnauze voll, ich trete aus.
Parteien gewinnen und verlieren Mitglieder, das war schon immer so. Und für die „Großen“, für die SPD – ist es seit 1990 stetig so, dass am Ende eines jeden Jahres mehr Mitglieder aus- als eingetreten sind. Die SPD hat von 1990 bis 2016 etwa 54% ihrer Mitglieder verloren (Rückgang von 943402 auf 432706). Dabei ging es mir nie darum, ein Amt oder einen Posten zu übernehmen – diese waren immer nur Mittel zum Zweck – um die Gesellschaft voranzubringen. Aussagen vom Parteivorstand wie z.B. Natur- und Klimaschutz seien keine sozialdemokratischen Themen, damit könne man keine Wahlen gewinnen. Was für eine Aussage. Geht es denn nur noch darum, Wahlen zu gewinnen? Vordergründig muss man Wahlen gewinnen, um zu regieren. Das ist in einer Demokratie so. Aber es darf niemals das Ziel sein, eine Wahl zu gewinnen, nur um zu gewinnen oder die Macht zu erhalten. Und das passiert seit 1998 ständig.
Ein Politiker*in sollte niemals daran interessiert sein, seine/ihre Partei oder sich selbst nach vorne zu bringen, sondern für eine bessere Gesellschaft einzutreten. Das vermisse ich bei (fast) allen unseren Politikern. Dabei liegen Themen der Zukunft auf der Hand, eigentlich. Klima- und Naturschutz, Erneuerbare Energien, nachhaltige Wirtschaft sind doch wichtige Themen. Liebe SPD, genau diese Themen bewegen junge Menschen, und diese Themen sind die Themen der Zukunft. Was bringt es uns, ein paar Arbeitsplätze – lass es Tausende in der Kohleindustrie sein – „zu retten“, wenn wir dafür die Lebensgrundlage der zukünftigen Generationen zerstören? Haben wir keine besseren Ideen, nachhaltige, gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen? Es gibt immer einen Alternative – man muss sie nur wollen. Vielleicht ist es nicht der einfache Weg, aber Du bist früher nie den einfachen Weg gegangen. Irgendetwas ist in den letzten Jahren sehr schief gelaufen zwischen uns. Du hattest Dich früher für die Schwachen, Armen und Abgehängten eingesetzt. Und jetzt? Jetzt lässt Du Dich von Lobbyisten, Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaftsfunktionären kaufen.
Eine Wahlniederlage wird zum Sieg erklärt, weil man doch noch eine Regierungsbeteiligung bekommen hat – auf allen Ebenen. Es werden Ämter und Mandate an Personen vergeben, nicht weil sie kompetent dafür sind, sondern weil sie am Lautesten „Ich“ gerufen haben. Ist das SPD, deine Vorstellung von einer sozialen und sozialistischen Gesellschaft?
Die Abgehängten haben kein Sprachrohr und werden vielleicht gesehen, aber nicht gehört. Gerade in der heutigen Zeit, nach dem unglaublichen Triumph eines rassistischen, homophoben, nationalistischen Clowns in den USA, müsstest Du SPD doch aufwachen. Die Wahlerfolge von Le Pen in Frankreich, Ukip in Großbritannien, den Rechten in Osteuropa und der AfD hier bei uns, haben noch nichts bei Dir bewirkt. Und es ist doch so offensichtlich.
Es gibt so viele Fragen, auf die die Menschen eine Antwort wollen. Und Du könntest und müsstest diese Antworten liefern. Wie sieht die Arbeit in 20 Jahren aus, wie retten wir unsere Umwelt und Natur, wie retten wir das europäische Projekt und führen es mit den Menschen in Europa wieder zusammen, wie schaffen wir es, dass nicht die reichsten zehn Prozent an der Globalisierung profitieren, wie bändigen wir den Finanzmarkt, wie schaffen wir gute Perspektiven für junge Familien, wie bekämpfen wir den erstarkenden Nationalismus und Rassismus, wie können wir im Alter gut leben, wie erreichen wir ein gerechtes Kranken- und Pflegesystem, wie schaffen wir gute Bildung ? – um nur einige aufzuzählen.
Ja – Du hast es mit linker Hilfe geschafft, den Mindestlohn einzuführen und es gibt immer wieder kleinere Anläufe durch Dich, etwas zu verbessern (Bürgerversicherung, kostenfreie KiTa-Plätze). Das sind jedoch alles nur kleine Tropfen. Und so lange Du SPD seit 1998 selber durch Deine Politik, die Ungleichheit, die immer größer wird, die Reichen reicher werden, die Mittelschicht wegbricht, hilft auch ein Mindestlohn nur bedingt. Leih- und Kurzarbeit, Minijobs, die Technisierung der Arbeitswelt sorgen jetzt schon dafür, dass Tausende Arbeitsplätze wegfallen. Davor schützt nur ein drastisch erhöhter Mindestlohn, dem Du dich auch verweigerst.
Du lässt es zu, dass die reichsten Deutschen Milliarden Euros jährlich an Dividenden aus ihren Aktienbeständen ausgezahlt bekommen und die Mittelschicht für ihr bisschen erspartes Geld bei den Banken Strafzinsen zahlen muss.
Es hätte Dir gut getan, nach der letzten Bundestagswahl 2017 in die Opposition zu gehen um dich zu erholen und neu aufzustellen – personell und programmatisch. Doch die Reize, in die Regierung zu kommen und Ämter verteilen zu können, waren zu groß. Opposition ist kein Mist – denn sie ist zwingend in der Demokratie. Und durch sie erneuert sich eine Partei.
Die Menschen erwarten von dir Antworten. Leider wirst du diese in den nächsten Jahren nicht liefern können. Vorsitzende, die mal A und mal B sagen, die ihr Geschwätz von gestern nicht mehr interessiert und sagen, die SPD müsste wieder zu den Menschen gehen – es selbst aber nicht hinbekommen, sind leider keine Vorbilder.
Es geht um Ehrlichkeit, um Gradlinigkeit. Wieso hat ein alter Herr wie Bernie Sanders in den USA so einen starken Rückhalt erfahren – gerade auch von jungen Menschen? Weil er ihnen Hoffnung gegeben hat, weil er sie und ihre Probleme ernst genommen hat. Und weil er ehrlich ist.
Sicher, es gibt viele Mitglieder überall, die es besser machen und sich einsetzen, doch deren Stimme hörst du nicht mehr. Sie werden gesehen, aber nicht gehört. Ich wünsche mir aus tiefstem Herzen, dass du es wieder schaffst und dich aufrichtest, denn Deutschland, Europa und die Welt brauchen eine starke Sozialdemokratie. Sie brauchen eine Partei, die sich für die Benachteiligten, die Schwachen, die Armen einsetzt, die für Gleichberechtigung steht, die die Ungleichheit nicht hinnimmt, die für Internationalität und für Frieden steht.
Gerade angesichts des Rechtsrucks in Europa und hier im Land mit der AfD wäre es so wichtig gewesen, dass die Mitte-links-Kräfte gemeinsam an Konzepten für eine sozial und ökologisch nachhaltige Politik arbeiten. Eine Zeitlang sah es ja auch ganz gut aus, es fanden große Treffen mit reger Beteiligung aller drei Parteien, SPD, Grüne und Linke statt. Nur hat die SPD nach der verlorenen Landtagswahl im Saarland und weiteren verlorenen Wählen gleich wieder Angst vor einem solchen Bündnis unter Einschluss der Linken bekommen. Genützt hat es nichts, die SPD hat das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren und die rot-rot-grüne Mehrheit ist erstmal und wohl für längere Zeit dahin. Eine Tragik, wie ich finde. Ich kann daher verstehen, dass sich Wähler*innen von den Parteien abwenden und Möglichkeiten sich in der SPD für einen Politikwechsel einzusetzen, sehe ich in absehbarer Zeit nicht mehr.
Die Gremien der SPD hatten, ohne einen Parteitag darüber entscheiden zu lassen – beschlossen, dass sie sich an den Betriebsgesellschaften (Fahrbetrieb und Güterverkehr) von privaten Investoren mit bis zu 24,9 Prozent beteiligen konnten.
Ich will hier mal zwei weitere Beispiele nennen. Zum Beispiel für ihr Stillhalten gegenüber Kurt Becks ungeschickt eingestielten Öffnungsversuch gegenüber der Linkspartei haben ihm seine Stellvertreter Steinbrück und Steinmeier die Privatisierung der Bahn abgepresst.
Ein ähnliches Überrumpelungsmanöver konnte man auch vor dem „Zukunftskonvent“ der SPD beobachten. Da verortete der Hamburger Parteitag die SPD ausdrücklich als „linke Volkspartei“. Zwei Tage vor dem Treffen legten Steinmeier und Steinbrück ein Papier vor, indem sie die SPD „wieder“ in die „Mitte“ rücken wollten. Und wieder gab Kurt Beck nach und unterzeichnete mit. Beide wussten sehr genau, dass es auf diesem Konvent vor allem um ein trotziges Aufbruchssignal gehen musste und dass keine Entscheidungen getroffen werden konnten, deshalb konnte ein solcher Richtungsschwenk ohne Widerspruch aus der Partei kommuniziert werden.
Das sind nur zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit, wie die Parteirechte mit der Partei umspringt. Dieses Ausmanövrieren der Partei durch die rechte Parteiführung machte seit Schröders Agenda-Verkündung Schule. Bis hin zum Coup der Ausrufung von Neuwahlen hat eine Parteiführung nach der anderen mit allen Mitteln versucht, eine Diskussion oder eine kritische Analyse über den politischen Kurs der SPD zu verhindern. Es gab keine Bestandsaufnahme der Agenda-Politik, es gab keine Aufarbeitung, warum die SPD Wahl für Wahl verloren hat, es durfte kein Nachdenken darüber geben, warum der SPD die Mitglieder in Scharen davon gelaufen sind. Die Flügelkämpfe „als Ausdruck elementarer Lebenswelten und Interessen“ wurden – auch weil dem linken Flügel ein Kopf und eine informelle Organisationsstruktur fehlen – allenfalls unter der Decke ausgetragen, und mit jedem neuen Parteivorsitzenden, von Schröder über Müntefering und Platzeck bis Beck, musste die SPD zunächst einmal – diszipliniert wie die Parteitagsdelegierten der SPD eben immer waren – die jeweilige neue Führung unterstützen, ohne dass ernsthaft über Inhalte gestritten werden konnte oder wenigstens eine offene Klärung der politischen Ausrichtung herbeigeführt wurde.
Es herrscht ein Führungsstil, der inzwischen hauptsächlich von „bürokratischen“ Machtverwaltern an der Spitze der Partei geprägt ist. Verhaftet in ihrem vorausgegangenen Tun setzen die „Regierungs-Sozialdemokraten“ ihren Kurs mit Verfahrenstricks, „Personalklüngeln“, „intrigenhaften Scharmützeln“ oder einfach damit durch, dass sie Fakten schaffen (z.B. die Bahnprivatisierung).
Die „Stones“, also die Steinmeiers und Steinbrücks, aber auch Scholz, Tiefensee oder Oppermann, verstehen und behandeln die SPD nicht mehr als eine Partei, in der sich Menschen zusammengefunden haben, um sich einzubringen und um gemeinsame politische Ziele zu verfolgen. Sie betrachten die SPD als ein in einer Parteiendemokratie notwendiges Übel, als einen Wahlverein, der den Amts- und Mandatsträgern zu folgen und zuzujubeln hat.
Die Schröderianer haben nie verstanden, dass die SPD eine «Mitglieder- und Organisationspartei» ist, die als Unterschichtenpartei auf die Sammlung von Menschen und Potenzierung von Organisationskraft angewiesen ist – weit stärker als ihre bürgerlichen Pendants, die über andere, materiell und kulturell wirksamere Ressourcen verfügen. Man könnte es etwas knapper auch so sagen: Schröder hat den „Genossen der Bosse“ gespielt und auf „Bild und die Glotze“ gesetzt – doch die Bosse und die Leitmedien haben weiterhin andere politische Kräfte unterstützt.
Steinmeier und Steinbrück verhalten sich auch als Politiker wie Karrierebeamte, nämlich so, als wären sie durch ihre Ernennungsurkunde ermächtigt, Entscheidungen zu treffen und diese mit ihrer Amtsautorität gegenüber unwilligen Genossen durchzusetzen. Ihnen geht es nicht mehr darum zu überzeugen, mitzunehmen oder Mehrheiten für Sachfragen zu organisieren, ihnen geht es um Gefolgschaft für die Ziele, die sie für richtig halten oder die sie durch ihr politisches Handeln gesetzt haben.
Nicht «die SPD als Partei hat sich längst von sich selbst verabschiedet», sondern «die Partei» wurde in den letzten Jahren von ihrer Führung verabschiedet oder hat sich verabschieden lassen. Und gerade deshalb hält sich «die Verzweiflung darüber…(dass die Partei implodiert) bei denen, die es angeht, in Grenzen».
Es ist gerade nicht «die Indifferenz, die Trägheit, die Lethargie prominenter Sozialdemokraten…warum der Zustand der SPD zum Gotterbarmen ist», sondern es ist umgekehrt das zähe Kleben an der Agenda2010 und das verdeckte Lavieren für einen politischen Kurs, den die politische Prominenz gegenüber der Partei und der Bevölkerung durchgesetzt hat. Steinmeier und Steinbrück verteidigen nur noch das vermeintlich heldenhafte Bild, das nach ihrer Meinung ihr großer Zampano Gerhard Schröder im Buch der Geschichte hinterlassen hat.
Nicht die SPD als Partei hat sich «von der Arbeiterklasse» entkoppelt, sondern es waren ihre führenden Leute, die diese Entkoppelung offen zum Programm erhoben. Steinbrück hat das schon im Jahre 2003 in einem Zeit-Interview auf den Punkt gebracht: „Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“
Beim BDI zum Beispiel wurde seinerzeit Gerhard Schröder für seinen Reformkurs gelobt und er versprach, ihn beizubehalten. Der Vorgang ist in zweierlei Hinsicht symptomatisch:
Zum einen konnte man sehen, dass die Gefühlswelt der Sozialdemokraten dem sozialdemokratischen Bundeskanzler ziemlich gleichgültig ist. Tausende noch immer aktive Genossen sind bei den Wahlen wegen Schröders „Reformpolitik“ abgestraft worden. Und der Bundeskanzler geht zwei Tage später zum BDI und lässt sich loben und feiern. Es ist nicht zu verstehen, wie man als sozialdemokratischer Bundeskanzler den Niedergang der eigenen Partei so sehenden Auges hinnehmen konnte. Es ist vor allem deshalb ein Rätsel, weil er ja wissen musste, dass in der bundesrepublikanischen Verfassung ein Bundeskanzler nicht wieder werden kann, wer den Rückhalt der eigenen Partei nicht mehr hat, weil es diese Partei als potente mehrheitsfähige Partei nicht mehr gibt.
Auf der BDI-Veranstaltung wurde zum anderen das parteiübergreifende Zusammenspiel der meinungsführenden Eliten von Wirtschaft, Politik und Medien sichtbar, die sich in einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Volk sehen und dies auch artikulieren.
Diese Eliten wollen strukturelle Reformen, die Teil-Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, sie wollen Entstaatlichung und Deregulierung und im Kern den Systemwechsel. In Schröders Agenda 2010 sahen sie nur den Anfang; der Bundeskanzler sah das ähnlich. Aber das Volk ist bockbeinig, will das nicht einsehen, hängt an sozialer Sicherung und vertraut immer noch auf Staat und öffentliche Leistungen. Im Kern ging es um die Frage, ob wir bei unserem einigermaßen sozialstaatlichen Modell, das Helmut Schmidt und die SPD 1976 das „Modell Deutschland“ genannt hat, bleiben, oder ob wir zu einer Variante des Thatcherismus wechseln. Sie haben dank Gerhard Schröder und seinen Nachfolgern, die ich weiter oben alle genannt hatte, dorthin gewechselt.
Die Neigung der Mehrheit unseres Volkes zur Sozialstaatlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch verschiedene Meinungserhebungen von den siebziger Jahren bis heute. Die Gründung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, heute eine professionell und finanziell gut ausgestattete Agitationseinheit der Arbeitgeberverbände, geht auf eine solche Umfrage von 1999 zurück. Damals waren die Metall- und Elektroarbeitgeber überrascht davon, dass die Mehrheit der Befragten die soziale Absicherung als besonders sympathisches Merkmal der sozialen Marktwirtschaft ansahen, dass 42 Prozent einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus für wichtig hielten und nur 34 Prozent dies nicht so sahen.
Die Arbeitgeber waren schockiert. Damals haben sie beschlossen, dem Volk den Kopf zu waschen. In Gerhard Schröder haben sie neben CDU, CSU, FDP und vielen Grünen den wichtigsten Verbündeten gefunden. Der Bundeskanzler sagt dem Sinne nach: Ich stehe hier und kann nicht anders, ich denke nicht an Kurskorrektur,… und er ist offenbar bereit, die Mehrheits- und Zukunftsfähigkeit seiner Partei der Zukunftsfähigkeit unseres Landes, wie er meint, zu opfern. Ist unser Land wirklich zukunftsfähiger, wenn wir unser Modell der sozialen Marktwirtschaft aufgeben? Nie und nimmer!
Die Mehrheit der Menschen will diese Politik nicht. Warum macht sich der Bundeskanzler nicht zum Fürsprecher dieser der sozialen Sicherung zuneigenden Mehrheit? Warum wirbt er bei den lauten und artikulationsfähigen Eliten, bei den Medien, den Unternehmern und bei den Parteien im Bundestag nicht für die Meinung dieser enttäuschten, schweigsamen und sich von der politischen Beteiligung verabschiedenden Mehrheit? Warum schlägt er sich auf die Seite der Meinungsführungselite, wozu ja nicht einmal die große Zahl von Unternehmern gehört, die sehr wohl sehen, dass unser Modell einschließlich der Rechte von Arbeitnehmern eine wichtige Stütze unserer Produktivität und Exportfähigkeit ist?
Was haben wir nicht schon alles an Reformen über uns ergehen lassen: die Änderung der Ladenschlusszeiten, die Streichung der Vermögenssteuer und die Senkung des Spitzensteuersatzes, die Riesterrente, die Praxisgebühren und die sogenannten Hartz’schen Reformen. Unsere Meinungsführer sind erfahrungsresistent. Sie sind wie Drogenabhängige, sie wollen die Dosis erhöhen statt nachzudenken. Sie sind Gefangene der fixen Idee, „Strukturreformen“ könnten uns weiterbringen. Einige wissen sehr wohl, was sie wollen. Andere sind Opfer von Denkfehlern und Legenden, die Opfer von Reformlügen.
Dass der BDI die Reformpolitik Gerhard Schröders unterstützt und ihn ermuntert, so weiterzumachen, das ist verständlich. Wer einen Systemwechsel in Deutschland will, wer an die Fundamente der Sozialstaatlichkeit heran will, ist auch so clever zu wissen, dass man das am allerbesten durch Sozialdemokraten besorgen lässt. Ich bewundere die strategische Fähigkeit dieser Wirtschaftsführer. Sie lassen die Sozialdemokraten das Bett bereiten, in dem sie sich dann mit der Union so richtig zu suhlen gedenken. Ausgesprochen traurig ist es, dass die SPD-Führungen diese Spiele nicht durchschauten.
Um den Text auf einer schönen Note zu beenden, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei den vielen tollen Menschen zu bedanken, die ich in der Partei kennenlernte.