Emanzipation war für Rosa Luxemburg das Ziel der Gattung Mensch und nicht nur eines ihrer Geschlechter. In Anlehnung an Marx forderte sie, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Gleichzeitig hasste sie es, Probleme einseitig zu betrachten. Voraussetzung für Emanzipation war für Luxemburg Bildung. Auch die sah sie nicht eindimensional. Lernen hatte für Rosa Luxemburg einen Doppelcharakter: als Aneignung der Menschheitskultur im weitesten Sinn und durch Selbstbetätigung in der gemeinschaftlichen Aktion. Bei beiden waren positive und, mehr noch, negative Erfahrungen unerlässlich.
Emanzipation reduzierte sich für Rosa Luxemburg nicht auf die Emanzipation der Frau:
»Der wissenschaftliche Sozialismus lehrt uns Frauen, dass wir unsere volle menschliche Befreiung einzig und allein mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in einer sozialistischen Ordnung erlangen können. Er macht es uns damit zur Pflicht jeder Stunde, für dieses hehre Ideal zu wirken, das das geschichtlich gegebene Ziel der Arbeiterbewegung ist. Den Proletariern ihrerseits erklärt der wissenschaftliche Sozialismus, dass sie dieses ihr Ziel nicht ohne die bewusste, tätige Unterstützung der breitesten Frauenmassen zu erreichen vermögen. Tatsachen über Tatsachen bekräftigen es. Das rasche und starke Anschwellen der beruflichen Frauenarbeit zwingt die für Lohn oder Gehalt Schaffenden, in der Erwerbsgenossin eine Gefährtin im Ringen um würdige Daseinsbedingungen zu achten und zu gewinnen«. [1]
Emanzipation war für Luxemburg kein einmaliger Akt der Befreiung, geschweige denn der einer Deklamation, sondern bedeutete eine ständige Auseinandersetzung – mit sich selbst wie mit allen Facetten von Gesellschaft und Natur. Das setzte Bildung voraus und lebenslanges Lernen. Nur durch ständige Lern- und Bildungsprozesse könnten eigene und gesellschaftliche Emanzipation und Veränderung hervorgebracht werden.
Entsprechend arbeitete Rosa Luxemburg, wenn sie lehrte: Sie provozierte Selbstermächtigung. Das tat sie auch, wenn sie Nationalökonomie unterrichtete.
„Durch Fragen und immer erneutes Fragen und Forschen holte sie aus der Klasse heraus, was nur an Erkenntnis über das, was es festzustellen galt, in ihr steckte. Durch Fragen beklopfte sie die Antwort und ließ uns selbst hören, wo und wie es hohl klang, durch Fragen tastete sie die Argumente ab und ließ uns selbst sehen, ob sie schief oder gerade waren, durch Fragen zwang sie über die Erkenntnis des eigenen Irrtums hin zum eigenen Finden einer hieb- und stichfesten Lösung«. [2]
Lernen beschränkte sich für Rosa Luxemburg allerdings nicht auf Bildung. Mehr noch bedurfte Emanzipation des aus der Erfahrung stammenden Wissens um die eigenen Stärken und, nicht minder, um die eigenen Schwächen. Ohne zielgerichtetes Handeln seien Erfahrungen nicht zu erlangen, und seien diese mitunter auch sehr schmerzhaft. Die Erfahrungen wirkten sich umso produktiver aus, je kollektiver sie gemacht und verarbeitet werden. Mit dieser Auffassung brachte Rosa Luxemburg alle Parteivorstände dieser Welt gegen sich auf – die doch stets zu wissen glauben, was für ihre Anhängerschaft das Beste ist:
»Der kühne Akrobat übersieht dabei, dass das einzige Subjekt, dem jetzt diese Rolle des Lenkers zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Und schließlich sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten ›Zentralkomitees‹«. [3]
Auf diese Zusammenhänge kam Luxemburg immer wieder zurück: Erfahrungen gewinne eine Klasse nur im Kampf – denn nur in ihm würden die vereinzelten Individuen zu einer Klasse und damit zu einem politischen Faktor. Schematismus, die Vorstellung, Kämpfe nach einer fertigen, in einem Buch niedergelegte Theorie führen zu können, lehnte sie ab. Sie meinte: »Mitten in der Geschichte, mitten in der Entwicklung, mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen«. [4]
Als die SPD 1912 große Stimmengewinne bei den Reichstagswahlen erzielte und ihre Führung mehr denn je suggerierte, der Parlamentarismus sei der allein gangbare Weg zum Sozialismus, war es Rosa Luxemburg, die die Siegerlaune dämpfte. Sie warnte die vier Millionen Wähler der Sozialdemokratie, den Kampfplatz der Partei zu überlassen: »Ihr habt jetzt eure Macht gezeigt, ihr müsst sie auch zu gebrauchen lernen«. [5] Rosa Luxemburg hätte das Agieren heutiger (linker) Parteien wohl kritisiert. Aus ihrer Sicht führten nur das Lernen aus Fehlern und eine ständige Auseinandersetzung zum Ziel und nicht ein selbstreferenzielles, die eigene Position um jeden Preis verteidigendes Herangehen. Die dadurch entstehende Entmündigung der Parteibasis wie der Wählerschaft hielt sie für das Gegenteil von Emanzipation.
Fußnoten
Rosa Luxemburg: Mehr Sozialismus, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 7/2, Berlin 2017, S. 935.
Rosi Wolfstein, 1920, zitiert in: Jörn Schütrumpf (Hrsg.): Rosa Luxemburg oder: Der Preis der Freiheit, 3., überarb. u. erg. Aufl., Berlin 2018, S. 102.
Rosa Luxemburg: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 1/2, Berlin 1970, S. 444.
Rosa Luxemburg: Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften. Rede am 1. Oktober 1910 in Hagen in der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 465.Rosa Luxemburg: Unser Wahlsieg und seine Lehren. Rede am 1. März 1912 in Bremen, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973, S. 132 f.